Byrd war vielleicht doch nicht erster Flieger am Pol | Polarjournal
Die Fokker F.VII war ein als Hochdecker ausgelegtes Verkehrsflugzeug aus den 1920er-Jahren. Es wurde in ein- oder dreimotoriger Ausführung gebaut und bot Platz für zwei Piloten und acht bis zehn Passagiere.

Als der bekannte Entdecker Richard E. Byrd 1926 von seinem erstmaligen Flug zum Nordpol zurückkehrte, entzündete seine Behauptung, sein Ziel erreicht zu haben, eine Diskussion, die bis heute andauert: Erreichte er wirklich den Nordpol? Ein Wissenschaftler an der Ohio State Universität hat durch das Studieren von Simulationen der atmosphärischen Bedingungen mit Hilfe eines Supercomputers und der Kontrolle von Byrds Navigationstechniken berechnet. Seine Studie zeigte, dass Byrd wohl nahe am Pol gewesen war, aber nur bis auf 130 Kilometer herankam, bevor er umgedrehte und nach Spitzbergen zurückkehrte.

Die Fokker F. VII a/3m von Richard Byrd mit der er den Nordpol erreichte. Die Maschine erhielt den Namen der Tochter Josephine seines Unterstützers Henry Ford.

Gerald Newsom, ein emeritierter Professor für Astronomie an der Ohio State, basiert seine Ergebnisse zum einen auf atmosphärischen Simulationen des 20th Century Reanalysis Project der Nationalen Ozean- und Atmosphärenbehörde (National Oceanic and Atmospheric Administration NOAA). Die Arbeit wurde in der Fachzeitschrift Polar Record veröffentlicht. «Ich habe herausgefunden, dass, wenn Byrd es wirklich geschafft hatte, er sehr ungewöhnliche Windbedingungen hatte. Es ist aber klar, dass sein Versuch sehr wagemutig war und er auf jeden Fall sehr viel Respekt verdient», erklärt Newsom.

Byrd flog am 9. Mai 1926 gemeinsam mit Floyd Bennet als erster mit einer dreimotorigen Fokker über den Nordpol. Gestartet waren die beiden in Ny-Alesund an der Kings Bai auf Spitzbergen, wo sie auch wieder landeten.

Ein Aspekt ist, ob Byrd und sein Pilot Floyd Bennet die mehr als 2‘400 Kilometer lange Strecke von Spitzbergen zum Pol und zurück wirklich in nur 15 Stunden und 44 Minuten zurücklegen konnten, wenn die Experten eine Flugzeit von rund 18 Stunden erwarten. Byrd hatte seinerzeit behauptet, dass starke Rückenwinde sein Flugzeug massiv unterstützt hätten und er deswegen schneller unterwegs gewesen war. Aber nicht alle glaubten ihm. «Der Flug war unglaublich kontrovers», erklärt Newsom weiter. «Die Leute, die Byrd verteidigten, waren vehement dafür, dass er ein Held war. Die andere Seite sagte von ihm, dass er einer der grössten Betrüger der Welt war. Was für Emotionen! Es war wirklich gehässig.»

Floyd Bennet und Richard E. Byrd als gefeierte Helden bei ihrer Rückkehr.

Newsom hatte nichts von dieser Debatte mitgekriegt, bis Raimund Goerler, ein pensionierter Archivar an der Ohio State ein Flugtagebuch gefunden hatte, die von der Familie von Byrd der Universität im Rahmen der offiziellen Namensgebung des Byrd Polarforschungszentrum übergeben worden waren. Goerler hatte 1995 eine Kartonschachtel, die übersehen worden war und mit «Diverses» angeschrieben war, geöffnet. Darin fand er ein besudeltes und fleckiges Buch mit handgeschriebenen Notizen von Byrd über seinen Nordpolflug von 1926, seinen historischen Transatlantikflug von 1927 und über eine Grönlandexpedition von 1925. Goerler suchte daraufhin Newsom für Hilfe zu den Navigationsnotizen auf. «Aufgrund der festgefahrenen Meinungen auf beiden Seiten innerhalb der Polarforschungsgemeinschaft dachten wir uns, dass ein Astronom, der noch niemals zuvor eine Meinung dazu geäussert hatte, die Fähigkeiten für eine unabhängige Beurteilung und eine neutrale Position haben wird», meint Goerler.

Es ist umstritten, ob Byrds Flugbesatzungen 1926 im Fokker-Flugzeug tatsächlich den Nordpol erreichten. Das Flugzeug ist im Henry-Ford-Museum in Dearborn, einem Vorort von Detroit ausgestellt. (Foto: Henry-Ford-Museum)

Newsom hatte als Student im Aufbaustudium mitgeholfen, Astronavigation zu unterrichten und war immer noch daran interessiert. Mit Hilfe der Archivarin des Byrd Forschungszentrum, Laura Kissel, studierte er genau Kopien des Notizbuches und andere ähnliche Schriftstücke, inklusive den Flugabschlussbericht von Byrds Sponsoren in der Nationalen Geographischen Gesellschaft. Newsom war besonders neugierig auf den Sonnenkompass, den Byrd benutzt hatte, um zum Pol und zurück zu gelangen. Der Kompass war damals ein hochmodernes Instrument mit einem Uhrwerk, das eine Glasabdeckung drehte, um die Sonnenbewegung darzustellen. Durch den Blick auf einen Schatten im Kompass konnte Byrd eruieren, ob sein Flugzeug nach Norden flog. Unter den Artefakten im Forschungszentrum ist auch eine Kopie der Barograph Aufzeichnungen, die während des Fluges gemacht wurden und die Luftdruckverteilungen darstellte. Ein kleiner Kalibrierungsgraph war mit den Höhen der verschiedenen Druckstärken beschriftet und erlaubte es Byrd, die Höhe des Flugzeuges während des Fluges zu bestimmen. Byrd nutzte die Höhe, um ein Gerät zu stellen, welches über einer Öffnung im Boden des Flugzeugs lag und mit einer Stoppuhr bestimmte er die Zeit, in der auffällige Merkmale auf dem Eis im Blickfeld auftauchten und wieder verschwanden. Die Ablesung der Stoppuhr ergab dann die Geschwindigkeit über Grund des Flugzeugs. Damit konnte Byrd dann die zurückgelegte Distanz berechnen und so erkennen, wann er und Bennet weit genug geflogen waren, um den Pol erreicht zu haben. Er konnte auch sagen, ob ein Seitenwind das Flugzeug vom Kurs abgebracht hatte. Und er musste während der gesamten Reise nach Norden die Berechnungen alle paar Minuten aufs Neue durchführen. Das teilweise offene Cockpit des Flugzeugs muss sehr laut gewesen sein, erklärt Newsom, und so habe Byrd Nachrichten in sein Notizbuch geschrieben, damit Bennet seine vorgeschlagenen Kurskorrekturen lesen konnte. Beispielsweise gibt es eine Notiz von Byrd an Bennet, in der er eine Korrektur um 3 Grad nach Westen anordnet, um einen Seitenwind auszugleichen.

Der Sonnenkompass und das Notizbuch von Byrd, die mit auf dem historischen Flug gewesen waren.

Das Problem war, wie Newsom schnell herausfand, dass das Notizbuch keinerlei Berechnungen über die Bodengeschwindigkeit des Flugzeuges aufführt, nur die Ergebnisse. «Ich dachte, er hätte seitenweise solche Berechnungen aufgeschrieben», sagt Newsom. «Ohne diese kann man nicht ganz sicher sein. Aber tief in mir hege ich die Befürchtung, dass er alles im Kopf gerechnet hatte.» Newsom fand auch heraus, dass sowohl Barograph wie auch der Kalibrierungsgraph sehr klein waren. Eine Änderung des Luftdrucks um einen Zoll (die Grössenangabe damals, 1 Zoll = 2.54 cm) auf dem Quecksilber entspräche nur einer Änderung um ¼ Zoll auf der Barograph Aufzeichnung. «Das ist sehr winzig», erklärt Newsom weiter. «Wenn Byrd auch nur ein Zehntel eines Zolls auf der Barograph Aufzeichnung daneben lag, wäre seine Höhe um 18 Prozent daneben und damit auch seine Bodengeschwindigkeit um 18 Prozent. Und es bestand zu jedem Zeitpunkt die Chance auf Fehler, wenn er während des ganzen Fluges neue Messungen vorgenommen hatte». Änderungen in der Atmosphäre auf verschiedenen Breitengraden bedeuten, dass Byrds Kalibrierungsgraph seine Genauigkeit während der Dauer des Fluges verlor. Newsom errechnete, dass dies Byrd in den Glauben geführt hatte, er hätte den Nordpol erreicht, obwohl er in Wirklichkeit noch etwa 125 Kilometer entfernt oder er rund 33 Kilometer über den Pol hinausgeflogen war. Newsom schreibt in seiner Arbeit: «Diese Art der Analyse selbst wird die Debatte, ob Byrd den Pol erreicht hatte, nicht lösen. Aber sie deutet darauf hin, dass er wahrscheinlicher vor seinem Ziel gestoppt hatte, als dass er darüber hinausgeflogen war.»

Byrd machte in der Presse Schlagzeilen. Später verlegte er seine Interessen in die Antarktis. Auf seiner 1. Antarktisexpedition (1928–1930) gelang ihm am 28./29. November 1929 mit seinem 3-motorigen Flugzeug «Floyd Bennett» der erste Überflug und die Umrundung des Südpols

Als nächstes entschied Newsom zu testen, ob Byrd wirklich solch starke Rückenwinde erlebt hatte, wie behauptet. Und dazu wandte sich der Forscher einer unbefangenen Quelle zu, die er kannte: Die Daten des «20th Century Reanalysis Project» von NOAA. Mit Hilfe eines Supercomputers des Energieministeriums hatte NOAA wahrscheinliche Atmosphärenbedingungen für jeden Ort auf der Erde alle sechs Stunden zwischen den Jahren 1870 und 2010 errechnet. Die Daten benutzen ein Modell, welches 56 plausible Szenarien für jeden 6-Stunden-Intervall berechnete. Die Ergebnisse dieser 56 Modellatmosphären wurden dann gemittelt, um die wahrscheinlichsten Bedingungen zu erhalten. Da die Windbedingungen des Modells für den Zeitraum von Byrds Flug nicht mit seinen Ausführungen übereinzustimmen schienen, untersuchte Newsom jedes der 56 Szenarien einzeln, um zu sehen, ob mindestens ein davon so starker Rückenwind aufweisen würde. Keines davon zeigte sie an. «Meistens musste er Gegenwind auf dem Weg nach Norden und Rückenwind auf dem Weg nach Süden gehabt habe. Aber es gibt keinen Beweis für Windveränderungen, wie er sie beschrieben hatte. Natürlich sind die Modelle von NOAA Vermutungen, wie die Bedingungen an diesem Tag gewesen sein könnten, nicht wirkliche Messungen. Es besteht immer noch die leise Vermutung, dass Byrd an jenem Tag Rückenwinde gehabt haben kann. Aber die 56 Simulationen deuten an, dass, wenn es sie tatsächlich gegeben hatte, er ein unglaublicher Glückspilz gewesen sein muss.»

Die Karte und Routenberechnung soll belegen, dass Byrd und Floyd Bennet den Pol erreicht haben sollen.

Es ist aber auch einfach zu vergessen, wie schwierig und gefährlich die Navigation vor der Erfindung von Höhenmeter und GPS gewesen war. Byrd stand unter immensem Druck: er hatte das Flugzeug mit Treibstoff überladen, um sicherzustellen, dass er und Bennet nicht mit leeren Tanks über der Arktis enden. Aber das zusätzliche Gewicht machte das Flugzeug sehr schwer manövrierfähig; er musste konstant die Position des Flugzeuges während beinahe 16 Stunden bestimmen, in einem wahnsinnig lauten Cockpit und mit Angst vor Erfrierungen und es kam noch dazu, dass während des Fluges ein Ölleck in einem der Motoren auftrat und dieser so aussah, als ob er aufhören würde zu funktionieren. «Dass die beiden wieder zurückgekommen waren, und zwar an dem geplanten Ort war schon eine Meisterleistung und zeigt, dass Byrd wusste, wie man mit dem Sonnenkompass navigieren musste», sagt Newsom. «Und da das Flugzeug theoretisch hoch genug flog, um mindestens bis 140 Kilometer weit zum Horizont zu blicken, mag Byrd vielleicht den Nordpol nicht erreicht haben, aber sogar im schlimmsten Fall hat er ihn höchst wahrscheinlich durch sein Cockpitfenster gesehen.»

Heiner Kubny, PolarJournal

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