Beitrag von Dr. Christoph Ruhsam, Austrian Polar Research Institute APRI
Wissenschaftler, die sich mit der Vermessung von Meereis beschäftigen, sagen seit Mitte der 2000er-Jahren voraus, dass sich das Schmelzen des arktischen Meereises im Sommer beschleunigen wird, da es Teil einer fundamentalen Änderung im Klimasystem ist. Dasselbe gilt für die Eismasse des grönländischen Inlandeises, das seit dem Beginn der Vermessung mit Satelliten im Jahre 1979 jedes Jahr massive Verluste erleidet. Am 12. Juli 2012 ist die Oberfläche des gesamten grönländischen Inlandeises für einen Tag bis in die höchsten 3000 m hohen Gebiete erstmalig aufgetaut. Eine noch nie dagewesene Beobachtung seit der Installation der Cryosat Satelliten, eine Konsequenz der aktuellen Klimaerwärmung. Die Frozen Latitudes der hohen Arktis erwärmen sich rascher als jede andere Klimazone der Erde.
Grönland-Expedition in den 1990er-Jahren
Vom Flugzeug aus sah ich bei der Annäherung zu unserer Expedition einen mächtigen Gletscher Richtung Grönlands Blosseville Kyst an der Ostküste fliessen und machte eine Aufnahme vom Zusammenfluss eines Seitengletschers mit dem Hauptgletscher, der mich wegen eines elefantenfussähnlichen Lappens faszinierte. Der Hauptgletscher war durch die enormen Eiskräfte stark deformiert.
Rund 20 Jahre später, im Zeitalter von Google Maps, suchte ich nach diesem Gletscher und tatsächlich konnte ich Sortebrae hoch in den Frozen Latitudes finden. Aber der Elefantenfuss-Lappen war auf den Satellitenbildern verschwunden. Ich folgte der Gletscheroberfläche mit den Augen und stellte ganz erstaunt fest, dass der durch die Kräfte des Gletschersystems stark deformierte Lappen mit all seinen Moränenmustern ca. 20 km gletscherabwärts immer noch klar zu erkennen war. Diese Konservierung des Seitengletscher-Originallappens dauert nun seit den 1990er Jahren an. Er brauchte ca. 20 Jahre, um die 20 km abwärts zurückzulegen. Somit sollte er um das Jahr 2025 die verbleibenden 8 km bis zur Mündung in die Ostgrönlandsee zurückgelegt haben, um dann gänzlich zu verschwinden.
Unsere Expedition an der unwegsamen Ostküste sollte uns zur Gletscherfront des unglaublich mächtigen Midgaardgletschers vordringen lassen – der Gletscher fliesst durch ein Tälerlabyrinth vom 70 km entfernten Inlandeis herab, hatte sich aber gegenüber dem Gletscherstand, der auf unserer Karte aus den 1930er-Jahren verzeichnet war, innerhalb von 50 Jahren um ca. 15 km zurückgezogen. Das sind ca. 400 m pro Jahr auf einer Breite von 5 km.
Auf Google Maps erkennt man heute seinen fortgesetzten Rückzug um weitere 15 km in knapp der Hälfte dieser Zeit! Also hat sich seine Rückzugsgeschwindigkeit verdoppelt und so ist der Midgaardgletscher mittlerweile verschwunden. Es war uns damals nicht bewusst, dass wir historisches Bildmaterial von etwas über viele Jahrhunderte nicht mehr Sichtbarem mitbringen würden. Seine beiden Nährgletscher enden nun jeder für sich getrennt in Seitenfjorden am Ende des Sermilikfjordes. Ich stieg damals hoch auf einen Vorberg, um den Midgaardgletscher überblicken zu können und bekam Einblicke in das Schweizerland mit seinen massiven Seitenmoränen, die wie Raupenspuren den Fjordrand unüberwindbar umgestalteten. Frozen Morphs der arktischen Morphologie!
Franz Josef Land – das wahre Ende der Welt
Die Reise begann lange davor im Kopf, weil darin Träume entstanden, die die spiegelglatten Weiten der Sunde zwischen den Inseln im Licht der arktischen Nächte in die Virtualität des Geistes projizierten. Diese Eindrücke waren jedoch so real, dass ich sie viele Wochen danach vor Ort glaubte wiederzuerkennen, obwohl ich sie nie zuvor gesehen hatte. Im Kopf herrschte das passende Klima für die hunderten Inseln, die selbst am Ende des arktischen Sommers völlig mit Gletschern und Schnee überzogen waren – wahre Frozen Morphs.
Das Schiff steuerte durch den ständigen Nebel, der in grossen und kleinen Schwaden in der Luft hing. Manchmal war nichts zu sehen ausser der Hand vor den Augen. Manchmal durchbrachen Sonnenstrahlen den blei- bis lavendelgrauen Himmel und hoben Eisberge, unter den Inlandeiskuppen liegende Felsbuckel und mit frischem Schnee bedeckte Frostschuttberge hervor, gaben ihnen gewissermassen eine Betonung, die diese unberührten Pure Landscapes am wahren Ende der Welt in eine unbegreifliche Bescheidenheit hüllte. Der Horizont ist dominiert von Eiswänden, die senkrecht ins Meer abfallen und Eisberge in Mengen hervorbringen. Sie schwingen sich in organischen Linien vom nackten Permafrostboden auf und ziehen kilometerweit den Horizont entlang – fünfzig Meter hoch und höher – bis sie sich wegen der natürlichen Sichtweite oder der immerwährenden Nebel unseren Blicken entziehen.
2012 wurden wir Augenzeugen der geringsten sommerlichen Eismeerbedeckung seit 1979, als die permanente Vermessung der Packeisdecke mittels Satelliten begonnen wurde. Mittlerweile kann man über das Internet die tagesaktuellen Eiskarten abrufen und sich ein Bild vom dramatischen Eisschwund der letzten 30 Jahre machen: Sind es im Winter ca. 14 Mio. km², die den Nordpol umgeben und die im Sommermittel auf ca. 8 Mio. km² abnehmen – das Atmen der Frozen Latitudes –, so brach es 2012 auf nur mehr 3,5 Mio. km² zusammen. Das entspricht einer Abnahme um 50%! Bei unter 1 Mio. km² wird man von einem eisfreien Polarmeer sprechen. Noch schlimmer ist die Volumenreduktion, da das mehrjährige Eis immer weniger wird und die Stürme ein leichtes Spiel haben, im einjährigen Eis zu wüten. 80% weniger Volumen als das langjährige Mittel seit 1979 wurde 2012 gemessen.
2019 bangten die Wissenschaftler, als es nach einem winterlichen Eistiefststand zu einem neuen sommerlichen Negativrekord zu kommen schien: es wurde aber „nur“ Platz 2 in der Hitliste der sommerlichen Eistiefststände mit entsprechend weitreichenden Auswirkungen auf das Weltklima. Die heurigen Wald- und Tundrabrände im hohen Norden von Alaska bis Sibirien und sogar in Grönland spiegeln die enormen Kühlleistungsverluste der zentralen Arktis wider – Frozen Latitudes on fire?
Die Frozen Latitudes auch zuhause
Meine Begeisterung für die Kryosphäre ist schon in meiner Kindheit entstanden. Als richtiger Österreicher überquerte ich mit meinen Eltern und meinem jüngeren Bruder bereits im Alter von 7 Jahren die Alpen über die weltberühmte „Grossglockner Hochalpenstrasse”. Aus der Sicht kindlicher Augen waren wir damals unglaublichen Abenteuern und Gefahren ausgesetzt: Tiefe Täler, die uns neben der schmalen Strasse förmlich in die Tiefe ziehen wollten; überlastete Autos und Fahrer, die verzweifelt auf ihre rauchenden Motoren starrten; eine Besteigung der Pasterze, des grössten Gletschers der Ostalpen, bei der die Luft selbst im Hochsommer eiskalt um unsere kurzen Lederhosen und das Dirndl blies. Im oberen Teil der 8 km langen Gletscherzunge sahen wir das furchteinflössende Spaltensystem des Hufeisenbruches, über den enorme Mengen Eis von den höchsten 3000ern in die Tiefe brachen.
Als ich im August 2014 mit meiner Frau auf der Suche nach Kindheitserinnerungen dieselbe Strecke befuhr, war die Pasterze auf ein Stück schmutziges, von Frostschutt überlagertes Eis verkommen und der Hufeisenbruch hatte sich in eine nackte Felswand verwandelt. Die letzten Jahrzehnte haben markante Veränderungen im Klima gebracht, die selbst die grössten Alpengletscher in den Tod schicken! Eine grundlegende Veränderung ist im Gange!
Diese Erkenntnisse grundlegender Veränderungen drängen einem unwillkürlich das Gefühl von Sorge auf, gepaart mit der Erkenntnis, dass Zurückhaltung notwendig ist, um der Menschheit das Überleben zu ermöglichen.
Über den Autor
Dr. Christoph Ruhsam ist passionierter Landschaftsfotograf der sich seit Jahrzehnten auf die Arktis und die Kryosphäre spezialisiert hat. Neben seiner Verantwortung in einem IT-Unternehmen engagiert er sich ehrenamtlich im Austrian Polar Research Institute APRI im Bereich Öffentlichkeitsarbeit. Sein Fine-Art Fotoband FROZEN LATITUDES ist eine Hymne auf die Schönheit der Hohen Arktis. Es ist im Verlag Seltmann und Söhne, Berlin, auf Englisch und Deutsch erschienen. Das Buch präsentiert auf 288 Seiten atemberaubende Fotos im Panoramaformat 30 x 23,5 cm, von entlegensten Landschaften in Grönland, Franz Josef Land und dem Arktischen Ozean. Fünf der sechs Kapitel erzählen berührende Erlebnisse von Arktisexpeditionen über 30 Jahre und nehmen den Leser auf einen authentischen Weg in die Sphären der Frozen Latitudes mit. Das letzte Kapitel hat Professor Dr. Wolfgang Schöner verfasst. Er ist Vorstandsmitglied des APRI und international verdienter österreichischer Wissenschaftler in Sachen Glaziologie und Klimaforschung. Darin werden gut verständlich die Hintergründe über die Auswirkungen der globalen Erwärmung auf Schnee und Eis der Arktis erklärt.
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