60 Wissenschaftler zum Thwaites-Gletscher in der Antarktis aufgebrochen | Polarjournal
Das multidisziplinäre Thwaites-Projekt wird in acht Teilprojekten über, auf, unter und vor dem Gletscher mit Hilfe modernster Technik durchgeführt. Grafik: ITGC

Das gemeinschaftliche Forschungsprogramm von Großbritannien und den USA geht in die zweite Runde: Knapp 100 Wissenschaftler und Hilfskräfte brachen letzte Woche zum Thwaites Gletscher in der West-Antarktis auf. Ihre Ergebnisse sollen den Beitrag des Gletschers zum globalen Meeresspiegelanstieg vorhersagen.

Der Thwaites Gletscher, der eine Fläche von 192.000 Quadratkilometer umfasst – die Größe Großbritanniens – ist einer der instabilsten antarktischen Gletscher und besonders anfällig für Veränderungen des Klimas und der Ozeane. In den letzten 30 Jahren hat sich die Menge des aus der Region fließenden Eises fast verdoppelt, vor allem weil warmes Meerwasser aus der Amundsensee unter dem Gletschereis zirkuliert und es schmelzen lässt. Computermodelle zeigen, dass der Gletscher in den nächsten Jahrzehnten sogar noch schneller Eis verlieren könnte, wenn der Rückgang des Eises fortschreitet. Bereits heute macht das vom Thwaites Gletscher in die Amundsensee abfließende Eis etwa vier Prozent des globalen Meeresspiegelanstiegs aus. Ein Kollaps des Gletschers würde in den kommenden Jahrhunderten zu einem signifikanten Anstieg des Meeresspiegels um etwa 65 Zentimeter führen.
Um die Dynamik des Gletschers zu erforschen und seinen Beitrag zum globalen Meeresspiegelanstieg besser zu verstehen, haben das britische Natural Environment Research Council (NERC) und die US-amerikanische National Science Foundation (NSF) in 2018 eine Partnerschaft gegründet, die International Thwaites Glacier Collaboration, kurz ITGC.

Professor David Vaughan, Wissenschaftlicher Direktor beim British Antarctic Survey und leitender wissenschaftlicher Koordinator für das ITGC in Großbritannien sagt:
“Ich arbeite seit über 30 Jahren in der Antarktis und seit vielen Jahren wissen wir, dass der Thwaites Gletscher der Schlüssel zu einem viel besseren Verständnis des Meeresspiegelanstiegs ist.  Dies ist unsere erste Gelegenheit, diesen unbekannten, aber wichtigen Gletscher besser zu verstehen.
Aufgrund seiner Abgeschiedenheit haben weniger als 100 Menschen jemals einen Fuß auf den Thwaites Gletscher gesetzt. Was wir also planen, ist enorm ehrgeizig und herausfordernd. Diese gemeinsame Anstrengung zwischen dem Vereinigten Königreich und den USA wird einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, dass wir den Regierungen die richtigen Informationen für politische und unternehmerische Maßnahmen zur Verfügung stellen können, die dazu beitragen, Küstenstädte, Ökosysteme und gefährdete Gemeinschaften in Zukunft zu schützen.“

Der Thwaites Glacier ist extrem abgelegen; die Studienorte auf dem Gletscher sind mehr als 1.600 Kilometer von der britischen Rothera Forschungsstation und der McMurdo Station des amerikanischen Antarctic Program entfernt. Wissenschaftler, Hilfskräfte und Ausrüstung werden über mehrere Camps, die als Bereitstellungslager dienen, an die Einsatzorte gebracht. Der Aufwand ist immens – caravanartige Anhänger werden von riesigen Traktoren über den Schnee gezogen und es kommen spezielle Schneeflugzeuge mit Kufen zum Einsatz. Der größte Teil der Forscher reist über die McMurdo Station an und dann weiter in Richtung Osten zu den Camps nahe der antarktischen Küste.
Die verschiedenen ITGC Forschungsteams, die letzte Woche aufgebrochen sind, werden bis März 2020 mit der Feldarbeit beschäftigt sein.

Die ITGC Projekte konzentrieren sich auf verschiedene Aspekte des Thwaites Gletschers und sammeln Daten in unterschiedlichen Regionen. Bild: ITGC

In der zweiten der vier Feldsaisons, die jeweils im Süd-Sommer stattfinden, werden fünf der acht Forschungsprojekte des ITGC aktiv beteiligt sein und sich auf verschiedene Aspekte des Gletscher und seiner Umgebung konzentrieren:

  1. GHC – Geological History Constraints on the Magnitude of Grounding Line Retreat in the Thwaites Glacier System:
    Das GHC-Team wird Informationen über das Verhalten des Eisschildes in der Vergangenheit und die relative Änderung des Meeresspiegels im Thwaites Gletschersystem sammeln.
  2. TARSAN – Thwaites-Amundsen Regional Survey and Network Integrating Atmosphere-Ice-Ocean Processes:
    TARSAN untersucht vom Schiff aus wie atmosphärische und ozeanische Prozesse das Verhalten der Thwaites und Dotson Eisschelfe beeinflussen – benachbarte Eisschelfe, die sich unterschiedlich verhalten. Diese Forschung wird dazu beitragen, herauszufinden, wie Schwankungen der atmosphärischen oder ozeanischen Bedingungen das Verhalten und die Stabilität von Eisschelfen in der Region beeinflussen können.
  3. MELT – Melting at Thwaites grounding zone and its control on sea level:
    MELT ist ein eisbasiertes Projekt, das erforschen soll, wie warmes Wasser den Thwaites-Gletscher an der Basislinie beeinflusst – dem Punkt, von dem an der Gletscher auf dem Wasser aufschwimmt und zum Eisschelf wird. Dadurch kann der potenzielle Beitrag des Gletschers zum Anstieg des Meeresspiegels genauer vorhergesagt werden.
  4. TIME – Thwaites Interdisciplinary margin Evolution – The Role of Shear Margin Dynamics in the Future Evolution of Thwaites Drainage Basin:
    TIME beobachtet ebenfalls vom Eis aus mit modernsten geophysikalischen Methoden die Scherränder – sich schnell deformierende Regionen des Gletschers. Diese beeinflussen möglicherweise die zukünftige Stabilität des Westantarktischen Eisschildes (WAIS) maßgeblich.
  5. THOR – Thwaites Offshore Research:
    Das Projekt THOR ist schiffs- und eisbasiert und wird die Sedimente sowohl im Meer vor dem Gletscher als auch unter dem Schelfeis zusammen mit den glazialen Reliefs auf dem Meeresboden untersuchen, um vergangene Änderungen der Bedingungen im Ozean und die Reaktion der Gletscher auf diese Veränderungen zu rekonstruieren. 

Die verschiedenen Forschungsteams werden in einem bereits bestehenden Lager namens West Antarctic Ice Sheet Divide (WAIS Divide) untergebracht, während die Ausrüstung zu den Einsatzorten transportiert wird. Durch den Wechsel von WAIS Divide zu den sechs kleineren Forschungscamps können die Wissenschaftler eine Reihe von Methoden anwenden, um die Region zu untersuchen:
Das MELT-Team, bestehend aus Glaziologen und Ingenieuren, wird an mehreren Standorten mit Heißwasserstrahlen durch das Eis bohren. Durch die geschmolzen Kanäle werden sie eine  Reihe von Instrumenten, darunter den Roboter ICEFIN, hinunterlassen, um zu untersuchen, wie der Gletscher mit dem Meer und den darunter liegenden Sedimenten interagiert. MELT und TARSAN werden die Region mit Hilfe von eisdurchdringendem Radar und aktiven seismischen Profilen vermessen, was wichtige Informationen über die Form des Eises und des Ozeanbeckens liefern soll. Die beiden Teams setzen außerdem multisensorische Stationen namens AMIGOS ein – sie messen die Ozeanzirkulation unter dem schwimmenden Eisschelf sowie die Wettermuster, um die Umweltfaktoren zu untersuchen, die die strukturelle Stabilität des Eisschelfs beeinflussen.
Ein THOR-Forscher plant, Bohrkerne vom Sediment unter dem Eis durch die von den Teams MELT und TARSAN gebohrten Löcher zu nehmen.
Zwei Teams vom Projekt GHC werden in den Hudson Mountains und am Mount Murphy stationiert sein, wo sie Gesteine sammeln und Änderungen in der Höhe der Eisoberfläche mit Hilfe von Radar bestimmen.
Ein Team von TIME wird am östlichen Scherrand etwas landeinwärts von der Küste stationiert sein, wo es mit Radar und passiver Seismik die Gesteinsschicht unter dem Gletscher an seiner Ostgrenze vermessen wird.
Ein weiteres Team wird aerogeophysikalische Daten über die Eisdicke des Thwaites Glacier aus der Luft sammeln.

Wo der Gletscher auf den Ozean trifft, werden Seeelefanten den Forschern bei der Datensammlung helfen. Bild: Lars Boehme

Ende Januar startet eine Forschungsreise von Chile aus mit dem amerikanischen Eisbrecher Nathaniel B. Palmer zur Amundsensee, der bis März 2020 in dem Gebiet bleibt. Die Expedition wird die Projekte THOR und TARSAN unterstützen, die Sedimentkerne vom Meeresboden nehmen. Zusätzlich sollen auch exzellente Taucher mit guter Ortskenntnis bei der Datensammlung helfen – Robben werden mit Sensoren ausgestattet, um Strömungs- und Temperaturdaten in der Amundsensee zu erfassen.  Den Gletscher selbst werden die Wissenschaftler nicht betreten, sondern den Eisverlust des Gletschers und den Ozean untersuchen, in den er fließt. Aus den Daten sollen die historischen Veränderungen des Gletschers rekonstruiert und die Zuverlässigkeit der Eisschild-Modelle verbessert werden, die zur Vorhersage zukünftiger Meeresspiegeländerungen verwendet werden.

„Das wird unsere Logistik- und Wissenschaftsanstrengungen in jeder Hinsicht herausfordern“, sagte Ted Scambos, Senior Research Scientist am Cooperative Institute for Research in Environmental Sciences (CIRES) an der University of Colorado Boulder und leitender wissenschaftlicher Koordinator für die USA. „Es ist ein langer Weg da draußen, es ist ein riesiges Projekt, das Wetter ist notorisch schlecht und wir streben nach einer wirklich innovativen Arbeit. Das wird die beste Leistung beider Nationen und viel Teamarbeit erfordern.“

ITGC ist eine fünfjährige, 50 Millionen Dollar teure gemeinsame Mission der USA und Großbritanniens, um mehr über den Thwaites Gletscher, seine Vergangenheit und die Zukunft zu erfahren. Bedeutende Beiträge zur Forschung kommen auch aus Schweden, Deutschland und Südkorea. Das ultimative Ziel des Projekts ist es, vorherzusagen, wie viel der Thwaites Gletscher zum globalen Meeresspiegelanstieg beitragen wird und wie schnell ein Übergang zu einem schnelleren Eisrückzug erfolgen könnte. ITGC wird von der US National Science Foundation (NSF) und dem UK Natural Environment Research Council (NERC) finanziert.

Quellen:  British Antarctic Survey, International Thwaites Glacier Collaboration

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