Klima-Kipppunkte möglicherweise bereits erreicht | Polarjournal
Gletscher im Wrangell St. Elias National Park in Alaska. Bild: Frans Lanting/Nat Geo Image Collection

Führende Klimaforscher, darunter Johan Rockström und Hans Joachim Schellnhuber vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, senden in einem aktuellen Kommentar, der in der Fachzeitschrift “Nature” veröffentlicht wurde, wiederholt einen Appell an die Welt. Sie warnen vor einem schnelleren Erreichen von sogenannten Kipppunkten und das in vielen verschiedenen Bereichen des Erdsystems. Würden diese überschritten, könnten die bisherigen Veränderungen nicht mehr rückgängig gemacht werden und Kettenreaktionen mit existenziellen Auswirkungen für die Zivilisation wären die Folge.

Das IPCC führte den Begriff Kipppunkt bereits vor 20 Jahren ein, damals allerdings noch in der Annahme, dass man einen solchen ab einer Erwärmung von etwa 5°C erreichen würde. Dank der Fortschritte in der Klimaforschung lehren uns die neuesten Erkenntnisse mittlerweile, dass das Erreichen von Kipppunkten schon ab einer Erwärmung von nur 1° – 2°C droht. Wenn die aktuellen nationalen Verpflichtungen zur Reduzierung von Treibhausgasemissionen umgesetzt werden würden – und auch nur WENN – dann würde die globale Erwärmung wahrscheinlich trotzdem über 3°C hinausgehen. An dieser Stelle erinnern wir uns an die Ziele des Pariser Klimaabkommens von 2015, die Erwärmung auf deutlich unter 2°C zu begrenzen.
Einige Ökonomen sehen aus der Kosten-Nutzen-Perspektive eine Erwärmung von 3°C als Optimum an, dies allerdings nur, wenn man die Wahrscheinlichkeit für Klima-Kipppunkte als sehr gering annimmt. Geht man jedoch von einer höheren Wahrscheinlichkeit für die Existenz von Kipppunkten aus, dann stimmt sogar die Empfehlung der Wirtschaftler für eine “optimale Politik” mit der des letzten IPCC-Berichts überein. Das heißt, die Erwärmung muss auf 1,5°C begrenzt werden. Und das macht aus Sicht der Klimawissenschaftler Notfallmaßnahmen erforderlich.

Kollaps der Eiskappen

Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass die Kipppunkte in der Kryosphäre kurz bevorstehen oder teilweise sogar bereits überschritten wurden. Eine Region, die entsprechend schnelle Veränderungen zeigt, liegt in der Amundsensee in der West-Antarktis. Hier münden große Gletscher ins Meer (wir berichteten vor kurzem über eine Expedition zum Thwaites-Gletscher), deren Aufsetzlinie, wo Eis, Ozean und Gestein aufeinandertreffen, bereits unwiederbringlich zurückweicht. Bricht dieser Bereich ab, könnte dadurch die gesamte westantarktische Eiskappe destabilisiert und ein Domino-Effekt ausgelöst werden. Ähnlich ist die Situation in der Ost-Antarktis im Wilkes-Becken. Und um die grönländische Eiskappe steht es nicht besser: ab einer Erwärmung von 1,5°C, die schon 2030 erreicht sein könnte, wäre sie nicht mehr zu retten. Treten diese drei Ereignisse ein, steigt der Meeresspiegel über die kommenden Jahrhunderte oder Jahrtausende um 13 bis 14 Meter an. 

Für eine genauere Bewertung der Eiskappen und ob sie Kipppunkte erreichen, benötigen die Forscher noch mehr Daten und bessere Modelle. Doch ganz gleich was diese neuen Daten zeigen, es müssen Maßnahmen ergriffen werden, um den Meeresspiegelanstieg zu verlangsamen, damit wir eine Chance haben, uns anzupassen.

Wissenschaftler warnen, dass eine Kettenreaktion von Kipppunkten wahrscheinlich ist. Grafik: The Guardian nach Lenton et al. 2019

Grenzen der Biosphäre

Kipppunkte sind jedoch nicht nur in den vereisten Regionen der Polargebiete zu erwarten, sondern gleichermaßen auch in der belebten Umwelt, in der Biosphäre. In ihrem Kommentar beschreiben Schellnhuber und seine Kollegen daher auch die Situation von verschiedenen Ökosystemen:

Korallenriffe:

  • Hitzewellen im Ozean führten zu massenhaftem Korallenbleichen und zum Verlust der Hälfte der Flachwasser-Korallen im Great Barrier Reef
  • die Erwartungen sind, dass 99% der tropischen Korallen verloren gehen, wenn die Temperatur über 2°C steigt
  • ein dramatischer Verlust der marinen Artenvielfalt und der menschlichen Lebensgrundlage wären die Folgen

Amazonas-Regenwald:

  • das Amazonasgebiet ist Heimat von einem Zehntel aller bekannten Arten weltweit
  • Abholzung und Erwärmung destabilisieren den Regenwald
  • der Kipppunkt im Amazonasgebiet könnte bei einem Waldverlust zwischen 20 und 40 Prozent liegen; seit 1970 wurden 17 Prozent abgeholzt

Boreale Nadelwälder:

  • Erwärmung führt zu bisher nicht gekanntem, massenhaftem Auftreten von Insekten
  • Waldbrände nehmen zu, wodurch einige Regionen von Kohlenstoffspeichern zu Quellen von Kohlenstoff werden

Die Wissenschaftler sind sich einig, dass Kipppunkte in der Biosphäre nicht nur unser lebenserhaltendes System untergraben könnten, sondern auch eine abrupte Freisetzung von Kohlenstoff in die Atmosphäre auslösen. So geschieht es bereits in der Arktis, wo die Permafrostböden beginnen unumkehrbar aufzutauen. Dabei werden schon heute große Mengen an Kohlendioxid und Methan frei.

Weiter beschreiben sie, dass unser verbleibendes Emissionsbudget von etwa 500 Gigatonnen Kohlendioxid – wenn wir nicht über 1,5°C Erwärmung hinauskommen wollen – bereits aufgebraucht sein könnte.

Ausgebleichte Korallen – gehen sie im großen Maßstab verloren, wäre der Verlust der Artenvielfalt dramatisch. Bild: Rainer von Brandis/Getty Images

Globale Kettenreaktion 

Sollte es zum Erreichen der Kipppunkte kommen, würde dies eine Kettenreaktion weltweiten Ausmaßes einleiten. An einem Beispiel können wir dies schon heute beobachten: “Der Verlust arktischen Meereises verstärkt die regionale Erwärmung; und die Erwärmung der Arktis und die Eisschmelze in Grönland treiben den Zufluss von Süßwasser in den Nordatlantik an. Dies könnte seit der Mitte des letzten Jahrhunderts zur Verlangsamung der Atlantic Meridional Overturning Circulation (AMOC) beigetragen haben, einer äußerst wichtigen Komponente im ozeanischen Strömungssystem durch den Transport von Wärme und Salz. Das schnellere Schmelzen der grönländischen Eiskappe und die somit weitere Verlangsamung der AMOC könnte den westafrikanischen Monsun destabilisieren und Dürren in der Sahelzone auslösen. Die Abschwächung der AMOC könnte auch das Amazonasgebiet austrocknen, den ostasiatischen Monsun stören und dazu führen, dass sich im Südlichen Ozean Wärme ansammelt, die wiederum den antarktischen Eisverlust beschleunigen könnte.”

An diesem realen Beispiel wird sehr gut deutlich, dass es nicht bei “einfachen” Kettenreaktionen bleiben würde, sondern, dass positive Rückkopplungen noch hinzukommen, die die Auswirkungen weiter verstärken.

Wenn das Auftreten von Kipppunkten nicht ausgeschlossen werden kann – einige Wissenschaftler widersprechen dieser Möglichkeit – dann ist die Zivilisation in existenzieller Gefahr, so die Verfasser des Kommentars. “Sich auf der Seite der Gefahr zu irren, ist keine verantwortungsvolle Option.” Weiter sagen sie: “Keine wirtschaftliche Kosten-Nutzen-Analyse wird uns helfen. Wir müssen unsere Herangehensweise in Bezug auf das Klimaproblem verändern.”

Die Aufsetzlinie des Thwaites-Gletscher in der West-Antarktis zieht sich bereits unumkehrbar zurück. Bild: NASA

Jetzt handeln

Aus Sicht der Autoren deuten allein die Beweise von den Kipppunkten darauf hin, dass wir uns in einem Zustand des planetaren Notstands befinden: Sowohl das Risiko als auch die Dringlichkeit der Situation sind akut. Diese Schlussfolgerung ziehen sie aus einer Formel, die sich leicht nachvollziehen lässt und unsere derzeitige Situation recht treffend beschreibt:

E = R x U = p x D x / T,

wobei der Notfall E als das Produkt aus Risiko R und Dringlichkeit U definiert ist. Risiko R ist von Versicherungen definiert als Wahrscheinlichkeit p multipliziert mit Schaden D. Die Dringlichkeit U wird in Notfallsituationen definiert als Reaktionszeit ℸ dividiert durch die Interventionszeit T

Die Situation gilt als ein Notfall, wenn Risiko und Dringlichkeit hoch sind. Wenn die Reaktionszeit länger ist als die Interventionszeit, haben wir die Kontrolle verloren.

Auf Basis dieser Formel behaupten die Wissenschaftler, dass die verbleibende Interventionszeit, um ein Kippen zu verhindern, schon gegen Null gesunken ist, während die Reaktionszeit, um Netto-Null-Emissionen zu erreichen, im besten Fall noch 30 Jahre beträgt. Somit hätten wir bereits die Kontrolle über ein mögliches Kippen verloren. Doch die Geschwindigkeit, mit der sich die Schäden aufbauen. könnte bis zu einem gewissen Grad noch unter unserer Kontrolle sein.

Der Kommentar schließt mit den Worten: “Die Stabilität und Widerstandsfähigkeit unseres Planeten ist in Gefahr. Internationale Maßnahmen – nicht nur Worte – müssen dies widerspiegeln.”

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