2020 – Crunchtime für die Arktis? | Polarjournal
Bleibt das Eis knackig fest – oder schmilzt es zu Matsch? (I.Quaile, Norwegen)

Ich würde mich so gerne auf die 2020er Jahre freuen, als Jahrzehnt, in dem die Arktis, wie wir sie kennen, gerettet, der Klimawandel definitiv aufgehalten wird; der weltweite Ausstoß an Treibhausgasen ihren Höhepunkt überschreitet; fossile Brennstoffe zu echten Fossilien werden. Die Arktis würde doch nicht eisfrei im Sommer. Und Freitage könnten wieder zu normalen Schultagen werden, da junge Menschen keine Angst mehr hätten, die Erwachsenen würden den Planeten zerstören.

Deutscher FDP-Chef Christian Lindner wurde zum bestverspotteten Politiker der Jugendbewegung in Deutschland mit seiner Äußerung, junge Leute sollten den Klimaschutz den Profis überlassen. (I.Quaile)

Leider habe ich wenig Anlass zu einem solchen Optimismus. Der Emissions Gap Report des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP), der im November 2019 veröffentlicht wurde, warnt, dass wir auf einen Temperaturanstieg von 3.2°C zusteuern, wenn es bei den bisherigen nichtbindenden Zusicherungen der Länder für die Reduzierung ihres Treibhausgasaustosses bleibt. Und da sich seit den Mitte-90er Jahren die Arktis mehr als zweimal so schnell wie der globale Durchschnitt erwärmt, – naja, was soll ich sagen?

2020 soll das Jahr sein, in dem die Länder die Klimaziele, die sie sich 2015 in Paris gesetzt haben, deutlich erhöhen. Allerdings rechnet UNEP vor, dass der globale Ausstoß an Treibhausgasen von jetzt bis 2030 um 7.6 Prozent pro Jahr fallen müsste, wenn die Welt die auch nur geringste Chance haben soll, das Ziel des Pariser Abkommens einzuhalten, nämlich den Temperaturanstieg auf höchstens 1.5 Grad Celsius zu begrenzen. Und dafür gibt es zurzeit überhaupt keine Anzeichen.

„Unser gemeinsames Versäumnis, frühzeitig und entschlossen den Klimawandel anzugehen, hat dazu geführt, dass wir jetzt tiefe Einschnitte in unsere Emissionen liefern müssen“, sagte Inger Andersen, Executive Director der UNEP, beim Vorstellen des Berichts.

„Die Länder können nicht bis Ende 2020 abwarten, dem Termin an dem die neuen Klimaversprechen anstehen, bevor sie stärkere Schritte unternehmen. Sie alle – aber auch jede Stadt, Region, Firma und jeder Einzelne – müssen jetzt handeln“, sagte sie weiter.

Wenn nicht, könnten die 2020er zu dem Jahrzehnt werden, indem uns das 1,5 Grad Ziel endgültig entgleitet.

Und das Eis schmilzt immer weiter (I.Quaile, Grönland)

Australische Waldbrände bestätigen Vorhersagen

„Als Klimawissenschaftler frage ich mich, ob das System Erde jetzt einen Kipppunkt überschritten hat“, schrieb Joelle Gergis am 3.1.2020 in der britischen Zeitung The Guardian. Während Südostaustralien brennt, schreibt der in Australien lebende Mitautor der Berichte des Weltklimarats IPCC weiter: „Wir beobachten, wie die allerschlimmsten unserer wissenschaftlichen Prognosen Realität werden.“

„Es kann sein, dass jetzt so viel Hitze im System ist, dass wir bereits einen Dominoeffekt in Gang gesetzt haben, der eine Kaskade von schlagartigen Veränderungen auslöst, die in den kommenden Jahren und Jahrzehnten Auswirkungen haben werden“, sagt Gergis, dem seine Arbeit schlaflose Nächte beschert.

„Vor einem Jahrzehnt identifizierten wir eine Anzahl von möglichen Kipppunkten im Klimasystem Erde: Jetzt gibt es Anzeichen dafür, dass mehr als die Hälfte bereits aktiviert wurden“, erklärt Professor Tim Lenton, Direktor des Global Systems Institute der britischen Universität Exeter, Leitautor eines im November 2019 veröffentlichten Berichts und Mitautor einer Grundlagenstudie zum Thema Kipppunkte im Jahre 2008.

Schiff im Eis vor Spitzbergen (I.Quaile)

Der Teufelskreis in der Arktis

Im hohen Norden dokumentiert der kürzlich veröffentlichte Arctic Report Card der US-Wetter und Ozeanografiebehörde NOAA die ständige Erwärmung der Lufttemperatur, den Rückgang des Meereises, Veränderungen der Ökosysteme an Land und im Meer, abtauenden Permafrost und das dramatische Abschmelzen des Grönlandeisschildes.

„Der Kreis schließt sich. Der Rückgang der Meereis- und Schneeflächen neben der Grönlandeisschmelze führen dazu, dass die Luft in der Arktis sich schneller erwärmt“, schreiben die Wissenschaftler. Der Verlust der weißen Schnee- und Eisflächen, die Wärme in die Atmosphäre zurück reflektierten, führt zu weiterem Abschmelzen und einer weiteren Erwärmung. Neben den Auswirkungen für die Bewohner der Arktis sorgen der steigende Meeresspiegel, die Freisetzung von Kohlenstoff aus dem Permafrost sowie die Auswirkungen auf das globale Wettergeschehen dafür, dass die Veränderungen, die in der Arktis stattfinden, auch für den Rest der Welt relevant sind, erklären die Autoren.

Der riesige grönländische Eisschild schmilzt viel schneller als vorhergesagt, mit Konsequenzen für den globalen Meeresspiegel. (I.Quaile)

In einer Rückschau auf die wichtigsten Themen in der Arktisberichterstattung im Jahr 2019, schreiben Krestia DeGeorgy und Melody Schreiber in Arctic Today das wichtigste Thema sei, wie auch in den letzen Jahren „das neue Wissen und die neuen Erfahrungen über die Geschwindigkeit und die Konsequenzen des Klimawandels in der Region, die unser Wissen ergänzen“.

Egal, wo man hinschaut, lieferten die Medien 2019 überall auf dem Planeten besorgniserregende Nachrichten zum Thema Klima: Die CO2-Konzentration in der Atmosphäre, ebenso Temperaturen der Luft und der Meere auf Rekordniveau, Brände in einem beispiellosen Ausmaß, abtauender Permafrost, und das 70 Jahre früher als erwartet, Wetterextreme.

Um noch einmal zum Klimawissenschaftler Joelle Gergis zurückzukommen:

„Der rapide Klimawandel hat das Potential, das Leben auf dem Planeten, wie wir es kennen, zu rekonfigurieren. Wir wissen das, weil geologische Forschungsergebnisse uns zeigen, dass es in der Vergangenheit zu solchen Ereignissen gekommen ist. Der allerwichtigste Unterschied allerdings ist, das es noch nie zuvor 7.5 Milliarden Menschen auf dem Planeten gegeben hat (…)“.

Da Gergis am Bericht des Weltklimarats mitarbeitet, der im nächsten Jahr veröffentlicht werden soll, beunruhigt es mich nicht wenig, wenn er schreibt: „Ich kann Ihnen versichern, dass die Situation unseres Planeten katastrophal ist.“

Katastrophale Konsequenzen für Eisbären und andere Kreaturen, die auf Eis angewiesen sind. (Polar Bears International, Madison-Stevens)

Können wir die Wende schaffen?

Was müsste denn passieren, damit das beginnende Jahrzehnt zu einem der Hoffnung wird, für die Arktis und die Erde als ganze?

Wir müssten unser Wirtschaftsmodell drastisch verändern, um den Treibhausgasaustoss in dem Maße zu reduzieren, wie im UNEP-Bericht erläutert. Grenzenloses Wachstum und Ressourcenverbrauch sind mit einer gesunden Erde und einem bewohnbaren Klima für zukünftige Generationen nicht kompatibel. Fossile Brennstoffe müssen in der Erde verbleiben. Erneuerbare Energien und saubere Verkehrsmittel müssen zur Norm werden. Wir müssen wiederaufforsten statt abzuholzen, unseren Verbrauch an allem ringsherum reduzieren, die Landwirtschaft nachhaltig betreiben und die Wegwerfmentalität endgültig wegwerfen.

Politiker müssten langfristig und global denken, nicht nur lokal und bis zur nächsten Wahl. „Solarzellen von China statt australischer Kohle zu kaufen würde keinen einzigen Waldbrand in unserem Land aufhalten“, meinte kürzlich sinngemäß ein australischer Politiker im Radiointerview. Könnte es sein, dass einige grundlegende Zusammenhänge noch nicht verstanden wurden?

Wir bräuchten einige große Veränderungen in den USA, in diesem wichtigen Wahljahr. Aber auch ein Umdenken in Brasilien, China und Indien, um die globale Erwärmung schnell anzuhalten.

FridaysForFuture Demonstration in Bonn, 2019. (I.Quaile)

Hoffnungsschimmer

Wird die alljährliche UN-Klimakonferenz in November, die dieses Jahr in meiner alten Heimatstadt Glasgow stattfindet, die Scherben des desaströsen Nichtereignisses in Madrid 2019 wieder zusammenkitten können? Diese Megakonferenzen können nur etwas bewirken, wenn die Klimawende gleichzeitig im realen Leben und in der realen Wirtschaft voranschreitet ohne von Hindernissen auf der internationalen politischen Ebene aufgehalten zu werden.

Selbst in den von einem Donald Trump regierten USA preschen Bundesstaaten, Regionen, Großstädte und Firmen mit der grünen Energiewende vor. Die EU gibt Klimaschutz höchste Priorität. Kampagnen rund um den Globus pflanzen klimaschützende Bäume. Neue Lebensmittel werden in Labors gezüchtet, die den Treibhausgasausstoss von Tierhaltung und Landwirtschaft drastisch reduzieren könnten, ohne die Ernährung der wachsenden Weltbevölkerung in Frage zu stellen.

Die FridaysForFuture – Bewegung ist weiterhin aktiv und will ihre Aktionen 2020 weiter intensivieren.

Hoffnung für die Zukunft: SchülerInnen und Studentinnen streiken in Bonn. (I.Quaile)

Als ich vor einigen Monaten die UNEP-Chefin Inger Andersen in Bonn zum Interview traf, sagte sie mir: „Man kann heutzutage kein Umweltschützer sein, ohne gleichzeitig Optimist zu sein“. Ich werde ihr also das letzte Wort geben und dabei hoffen, dass die Optimisten recht haben werden:

Wir haben noch nie so viel Umweltbewusstsein gesehen, wie wir im Moment sehen. Ich glaube, Politiker jeder Gesinnung sollten darauf achten, denn diese jungen Menschen mögen heute 16 Jahre alt sein. Aber in einigen Jahren werden sie wählen dürfen. Ich glaube also, dass dies zu einem Wendepunkt gehört (…) die Lösungen sind da. Wir beobachten jetzt schon, dass viele Bürgermeister und Gemeinden sehr pro-aktiv Entscheidungen treffen, um den Kunststoffverbrauch zu reduzieren, Recycling zu betreiben, alternative Eiweißquellen zu finden. Solche Sachen können helfen, die Klimakrise zu verlangsamen und die Artenvielfalt, wie wir sie kennen, zu schützen.“

Zur Autorin: Irene Quaile-Kersken


Die mehrfach ausgezeichnete schottische Journalistin Irene Quaile-Kersken beschäftigt sich mit dem Klimawandel in den Polargebieten und den Auswirkungen auf den Rest der Erde. 2007 besuchte sie im Rahmen eines internationalen Radioprojekts die deutsche-französische Arktisforschungsstation auf Spitzbergen. Fasziniert vom weißen Norden, ließ sie das Thema Arktis und die Bedrohung des zerbrechlichen Ökosystems nicht mehr los. Während einer Reportagereise in Alaska 2008 entstand ihr Ice Blog, zunächst auf der Webseite der Deutschen Welle, heute als eigenständiges Projekt unter www.iceblog.org. Weitere Reisen führten die passionierte Naturliebhaberin immer wieder zurück in die Arktis, auch nach Island, Grönland und auf Forschungsschiffen durch das Nordpolarmeer.

Link zum Blog von Dr. Irene Quaile-Kersken:

Aktueller Blog: https://iceblog.org/

Ältere Blogs: http://blogs.dw.com/ice/

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