Stoßzahn der Narwale – auf die Größe kommt es an | Polarjournal
Das Kreuzen der Stoßzähne bei männlichen Narwalen lässt sich vermutlich als Imponiergehabe und Klärung der Rangordnung einordnen. Foto: Paul Nicklen

In der volkstümlichen Vorstellung ist der Narwal untrennbar mit dem sagenumwobenen Einhorn verbunden, und das aus gutem Grund: Der lange, spiralförmig wachsende Stoßzahn des erwachsenen Männchens kam dem „Beweis“ für die Existenz des Einhorns näher als alles andere in der Natur. Tatsächlich haben sich seit dem Mittelalter Händler und Chemiker verschworen, um die Existenz des Narwals geheim zu halten, während sie seinen Stoßzahn als “ Einhorn-Hörner “ für immensen Profit verkauften. Obwohl er nicht mehr mit dem mythischen gehörnten Pferd in Verbindung gebracht wird, ist der Narwal aufgrund der Abgeschiedenheit und Härte seiner arktischen Umgebung sowie seines ungewöhnlichen Aussehens immer noch ein unwiderstehliches Wesen.
Eine neue Studie bestätigt nun, dass der Stoßzahn der männlichen Tiere durch sexuelle Selektion entstanden ist.

Prächtige Pfauenfedern, extravagante Geweihe bei Hirschen und kräftige Krebsscheren sind nur einige Beispiele für die protzigen Extreme, mit denen Tiere um Partner konkurrieren und diese anlocken. Ein Prozess, der als sexuelle Selektion bezeichnet wird.

Dank Zackary Graham, Forscher an der Arizona State University, und seiner Kollegen kann nun das „Einhorn der Meere“, der Narwal, zu der Liste hinzugefügt werden.

„Im Großen und Ganzen interessiere ich mich für die sexuelle Selektion, die dafür verantwortlich ist, dass einige der verrücktesten Merkmale in der Biologie entstehen. Als Evolutionsbiologe versuche ich zu verstehen, warum einige Tiere diese bizarren Eigenschaften haben und andere nicht“, sagte Graham, der Doktorand an der School of Life Sciences der ASU ist.
„Eine Möglichkeit, diese Merkmale zu verstehen, besteht darin, die Morphologie oder die Größe und Form der Tiere zu betrachten. Ich war sofort davon besessen, mir einige interessante Tiere zum Studium auszuwählen. Ich habe alles gegoogelt; vielleicht kann ich einen Dinosaurier in einem Museum finden. Schließlich fand ich den Narwal-Stoßzahn.“

Graham ist der Hauptautor einer neuen Studie, die den bisher besten Beweis dafür liefert, dass der Narwal-Stoßzahn als sexuelles Merkmal funktioniert, und die in der Zeitschrift Biology Letters veröffentlicht wurde.

Der linke der beiden Zähne im Oberkiefer wird bei den männlichen Narwalen zum Stoßzahn, indem er die Oberlippe durchbricht und spiralförmig nach vorn wächst. Foto: Carsten Egevang, Greenland Institute of Natural Resources

Ähnlich wie bei Walrossen und Elefanten wachsen männlichen Narwalen (Monodon monoceros) Stoßzähne. Bei den Narwalen bricht der linke von zwei Zähnen im Oberkiefer im ALter von zwei oder drei Jahren durch die Lippe und wird bei manchen Individuen bis zu 2,70 Meter lang. Der Stoßzahn wächst spiralförmig heraus, wodurch das Aussehen eines im Meer lebenden Einhorns entsteht.

Da die Narwale den größten Teil ihres Lebens versteckt unter dem arktischen Eis verbringen, wurde viel darüber spekuliert, wofür genau der Stoßzahn verwendet wird: zur Jagd, zum Kampf oder vielleicht zu etwas mehr amouröser Natur?

Graham erwähnt, dass es Berichte über Narben am Kopf, gebrochene Stoßzähne und seitliche Verletzungen durch Stoßzähne bei Männchen gibt, die möglicherweise Ziel einer gewissen Aggression waren. Andere vereinzelte Beobachtungen beschreiben ein Verhalten des „tusking“, bei dem sich zwei Narwale gegenüber sind, sie ihre Stoßzähne kreuzen und sie aneinander reiben. Dies deutet darauf hin, dass der Stoßzahn zur Kommunikation während intra- oder intersexueller Interaktionen verwendet wird.

Sehr selten kommt es vor, dass einem Weibchen ein Stoßzahn wächst, der dann jedoch nicht sehr lang wird. Foto: Paul Nicklen

Graham hat die sexuelle Selektion bei vielen verschiedenen Arten untersucht, einschließlich der Krebse, die er für seine Doktorarbeit untersucht. Er erkannte, dass er zum Nachweis der sexuellen Selektion des Stoßzahns die Beziehung zwischen der Größe des Stoßzahns und der Körpergröße nutzen konnte, um dieses mysteriöse Merkmal zu verstehen. Zu diesem Zweck sammelte sein Team Morphologiedaten von 245 erwachsenen männlichen Narwalen, die über einen Zeitraum von 35 Jahren aufgenommen wurden.

Zusammen mit den Kollegen Alexandre V. Palaoro vom LUTA do Departamento de Ecologia e Biologia Evolutiva, UNIFESP, Brasilien, und Mads Peter Heide-Jørgensen und Eva Garde vom Grönländischen Institut für natürliche Ressourcen erstellten sie aus den sorgfältig zusammengetragenen Narwaldaten aus Feldbeobachtungen einen großen Datensatz.

Beim Vergleich gleichaltriger Individuen zeigen sexuell ausgewählte Merkmale oft ein überproportionales Wachstum, das heißt bei einer gegebenen Körpergröße sind sexuell ausgewählte Merkmale bei den größten Individuen oft größer als erwartet. Wichtig ist, dass sie das Wachstum des Stoßzahns mit dem Größenverhältnis zwischen Körpergröße und einem Merkmal verglichen, das wahrscheinlich keine sexuellen Funktionen hat. Dazu benutzten sie die Schwanzflosse der Narwale.

„Wir haben auch vorausgesagt, dass wir bei sexueller Selektion des Stoßzahns eine größere Variation der Stoßzahnlänge im Vergleich zur Variation der Schwanzflossenbreite erwarten“, sagte Graham. Das liegt daran, dass viele sexuelle Merkmale sehr empfindlich auf Nährstoffe und den Körperzustand reagieren, so dass nur die größten und stärksten Individuen die Energie für die Erzeugung extrem großer Merkmale aufbringen können

Ein Männchen mit einem abgebrochenen Stoßzahn. Foto: Paul Nicklen

Laut Graham fanden sie heraus, dass die Stoßzähne um mehr als das Vierfache in der Länge variieren können: bei gleicher Körpergröße können Männchen Stoßzähne von 45 Zentimetern bis 2,5 Metern Länge haben. Die Schwanzflosse variiert jedoch kaum; bei Individuen gleicher Körpergröße ist sie zwischen 45 und 90 Zentimeter breit. Sie fanden auch ein überproportionales Wachstum des Stoßzahnes im Vergleich zur Schwanzflosse. Aufgrund des disproportionalen Wachstums und der großen Variation der Stoßzahnlänge, haben sie den bisher besten Beweis dafür geliefert, dass Narwal-Stoßzähne tatsächlich sexuell selektiert sind.

„Durch die Kombination unserer Ergebnisse von der Skalierung mit bekannten Materialeigenschaften des Stoßzahns legen wir nahe, dass der Narwalstoßzahn ein sexuell selektiertes Signal ist, das während der Kämpfe zwischen den Männchen zur Klärung der Rangordnung verwendet wird“, sagte Graham. „Die Information, die der Stoßzahn übermittelt, ist einfach: ‚Ich bin größer als du’.“

Und wenn nur die fittesten und stärksten Männchen die größten Stoßzähne produzieren, dann dient der Stoßzahn wahrscheinlich als ehrliches Qualitätssignal an die Weibchen oder Männchen.

Graham hofft, dass zukünftige Forscher Luft- und Wasserdrohnen einsetzen werden, um konkrete Beweise für die Funktion des Stoßzahns in der Natur zu liefern und die genaue Rolle des Stoßzahns als aggressive Waffe, als sexuelles Signal oder als beides zu klären. Vielleicht können wir uns eines Tages auf eine Naturdokumentation „Große Liebe: Narwale unter dem Eis” freuen.

„Insgesamt unterstützen unsere Beweise die Hypothese, dass der Stoßzahn sowohl als sexuell selektierte Waffe als auch als sexuell selektiertes Signal während der Rangkämpfe unter den Männchen funktioniert“, sagte Graham. „Allerdings sind weitere Bewertungen der Ökologie des Narwals gerechtfertigt.“

Quelle:  Arizona State University

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