Das grosse Schmelzen | Polarjournal

Weil sie für jemand anders einspringen konnte, schob SLF-Doktorandin Amy Macfarlane ihre geplante Rückkehr ganz spontan auf und verlängerte ihren Aufenthalt in der Arktis um mehrere Monate. Dadurch konnte sie hautnah erleben, wie «ihre» Eisscholle wieder zu Wasser wurde.

Die von den Forschern nach ihrer Rückkehr ins Eis wiedergefundene Scholle war beinahe ganz. Aus Sicherheitsgründen zogen sie den als „Festung“ bekannten Teil für die Forschung für ihre Instrumente vor. Bild: L. Nixon via SLF

Am 4. Juni 2020 sah ich zum ersten Mal nach fünf Monaten wieder Land. Das gesamte Leg-3-Team der MOSAiC-Expedition hatte auf diesen Moment gewartet, nachdem sich unsere geplante Rückkehr wegen der derzeitigen Corona-bedingten Reisebeschränkungen, die mit einigen logistischen Herausforderungen verbunden sind, von Mitte April auf Juni verschoben hatte. Einige Stunden später fiel ein Mitglied des Eisteams aus und ich hatte die Gelegenheit, mich Leg 4 anzuschliessen. Die Entscheidung zum Meereis zurückzukehren, fiel mir nicht schwer. Nach einem kurzen Gespräch über das Satellitentelefon mit meinem Vorgesetzten Martin Schneebeli und meiner Familie in Grossbritannien stellte ich mich mental auf weitere drei bis vier Monate in der Arktis ein.

Gegen Ende von Leg 3 verliessen wir das Eis für zwei Tage, nachdem wir den grössten Sturm und das stärkste Eisdynamik-Ereignis der Expedition erlebt hatten. Bei der Rückkehr zur Eisscholle nach einem Monat war ich sehr überrascht, wie viel von ihr unverändert erhalten geblieben war. Wir entschieden schnell, die wichtigste Forschungsinfrastruktur in einen Bereich von stärkerem zweijährigem Eis zu verlegen, der als Festung bezeichnet wird (Bild oben) und über den Winter genau beobachtet wurde.

Ein Cluster rundlicher Körner von etwa 1 cm Durchmesser. Foto: A. Macfarlane

Nachdem wir die Arbeit auf dem Eis wieder aufgenommen hatten, wurde klar, dass es auf allen Ebenen zu Veränderungen gekommen war. Zunächst beobachteten wir rundliche Körner (Abbildung 2) statt des winterlichen Tiefenreifs, da die Temperatur im Schnee konstant bei etwa 0 °C lag. Die Eisscholle war extrem nass, flach, hatte überflutete Bereiche und war mit matschigem Schnee mit hohem Flüssigwassergehalt bedeckt. Schmelztümpel entstanden und erstreckten sich über extrem weite Gebiete.

Eine glückliche Amy bei der Arbeit auf dem Eis. Foto: E. Salganik

Im Laufe der Woche beobachteten wir grosse Abflüsse. In der Eisstruktur kam es zu Verbindungen von Salzwasserkanälen (Abbildung 3) und Schmelztümpel wurden miteinander vernetzt. Durch diese Abflüsse wurde viel Oberflächenwasser abgeführt, was zu einer starken Reduzierung der Schmelztümpelflächen führte. Zuvor überschwemmte Schmelztümpelgründe wurden sichtbar und wiesen unglaubliche Strukturen auf (Abbildung 4).

Muscheln und Seesterne

In der Eisscholle fanden die Wissenschaftler Sedimentteile, die ihnen zeigte, dass ihre Scholle sich im russischen Teil der Arktis gebildet hatte. Sibirisches Sediment Foto: M. Shupe

Es wurde immer mehr Sediment sichtbar: Wir fanden grosse Felsstücke, Muscheln und sogar Seesterne (!) im Eis. Dies bestätigte uns, dass die Bereiche des zweijährigen Eises unserer Eisscholle auf Festeis in der sibirischen Arktis zurückgingen.

Nach den Abflüssen trat die Eisoberfläche wieder zum Vorschein, die einst von Schmelztümpeln überschwemmt war. Das faszinierende an dieser neuen Oberfläche war, dass es sich nicht um Blankeis handelte, sondern dass es weiss und «schneeig» war! Was wir jetzt sahen, war die Oberflächenstreuschicht. Dies ist der Fall, wenn die obere Eisschicht Temperaturen über 0 °C ausgesetzt ist und ein guter Abfluss erfolgt. Dann wird sie extrem porös, und es erscheinen kleine säulenartige Strukturen. Diese Struktur hat grossen Einfluss auf die sogenannte Albedo, die ein Mass für das Rückstrahlvermögen von nicht selbst leuchtenden Oberflächen ist. Oft wurde mir die Frage gestellt: «Was ist der Unterschied zwischen Schnee und Eis?» Die Antwort lautet: Schnee hat einen atmosphärischen Ursprung, und Eis entsteht durch das Gefrieren von Ozeanwasser.

Tiefe Schmelztümpel

Nach ein paar sonnigen Tagen wurden die Schmelztümpel allmählich tiefer und untergruben die Ränder. Die Oberflächenschmelze war nun deutlich erkennbar, da sich die Instrumente jetzt auf erhöhten Plattformen befanden.

Die Schmelztümpel wurden tiefer und unterspülten das Eis. Auf diesem Bild gibt es keinen Schnee! Foto: A. Macfarlane

Während Leg 4 sahen wir 27 Eisbären! In einer Woche im Juli hatten wir täglich Besuch. Dies schränkte unsere Arbeit auf dem Eis ein, und ich würde (inoffiziell) schätzen, dass 80-90 % der Tage nebelig waren, was unsere Aufgabe noch weiter erschwerte.

Eisbär mit Jungem. Foto: L. Nixon

Am 30. Juli hat unsere Eisscholle schliesslich das Ende ihrer Lebensdauer erreicht: Sie zerbrach in viele Einzelteile. Bereits einen Tag zuvor hatten wir rechtzeitig mit dem Abbau des Forschungscamps begonnen. Die «Polarstern» wird nun weiter nach Norden vorstossen, wo sich bald schon wieder neues Eis bilden wird.

Nun bereite ich mich auf die Übergabe an Leg 5 vor. Wir werden dann zwei Wochen auf dem Forschungseisbrecher Akademik Tryoshnikov verbringen, um Instrumente im verteilten Netzwerk – von den Aussenstationen im Eis – zurückzuholen, und planen Ende August zurückzukehren. Ich glaube, es wird ein Schock für mich sein, das Eis nach einem siebenmonatigen Aufenthalt zu verlassen, aber ich freue mich darauf, meine Familie und meine Freunde wiederzusehen, einen grünen Salat zu essen und die Dunkelheit wieder zu erleben!

Amy Macfarlane, Doktorandin am SLF bei Dr. Martin Schneebeli hatte eigentlich die dritte Etappe der MOSAiC-Expedition abgeschlossen. Doch ein Zufall rief sie nochmals auf die Polarstern für weitere vier Monate, wo sie das Ende der MOSAIC-Scholle hautnah erleben konnte und bis zum Nordpol fuhr.

Mehr zum WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF findet man auf auf https://www.slf.ch/

Quelle: Medienabteilung des SLF

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