Noch nie zuvor hat die Arktis eine industrielle Expansion dieses Ausmaßes erlebt. Der Golf von Ob hat sich in den letzten Jahren zum Kernstück des Vorstoßes der russischen Erdgas- und Ölindustrie entwickelt. Auf Yamal bereitet man sich auf die Umsetzung eines groß angelegten Projekts zum Ausbaggern des Golfs von Ob vor. Dadurch sollen Frachtschiffe sicher in Sabetta und Nowy Port einfahren und Fracht abholen können. Die großflächige Erschließung des Gebiets könnte fatale Folgen für die Meereslebewesen haben, und Umweltschützer schlagen jetzt Alarm. Sie befürchten vor allem, dass die anhaltende Ausbaggerung letztlich die seltenen lokalen Fischbestände vernichten könnte.
In den nächsten Jahren soll eine Reihe neuer Industrieprojekte in den entlegensten und empfindlichsten Gebieten der Erde in Betrieb genommen werden. Neue Infrastrukturen werden gebaut, ein Großteil davon entlang der arktischen Küste. Die Reserven an Kohlenwasserstoffen sind enorm und groß genug, um die Exportmärkte für die kommenden Jahrzehnte zu versorgen.
Große Baggerarbeiten
Das derzeitige Hauptgebiet der Öl- und Gasförderung in der russischen Arktis ist das Gebiet um den Golf von Ob. Hier betreibt der Erdgaskonzern Novatek bereits die «Jamal-LNG» Lagerstätte und Verladestelle, die nun jährlich mehr als 16 Millionen Tonnen verflüssigtes Erdgas liefert. Bereits hat Hydrographic Enterprise mit der Auswahl eines Generalunternehmers begonnen, der den schiffbaren Zufahrtskanal von der Karasee zum Golf von Ob verbreitern soll.
In den nächsten Jahren sollen weitaus größere Mengen vom Grund der arktischen Bucht abgegraben werden. Novatek baut mit der Umschlag- und Lagestätte «Arctic LNG 2». bereits sein nächstes Großprojekt. Diese Anlage soll im Jahr 2023 eröffnet werden. Bis dahin müssen die Verkehrswege für Produktionsplattformen, große Tanker und andere Schiffe leicht zugänglich sein.
Hydrographic Enterprise ist für den Löwenanteil der Baggerarbeiten verantwortlich. Das Unternehmen, eine Tochtergesellschaft des staatlichen Atomstromproduzenten Rosatom, wird im Laufe der nächsten vier Jahre 80 Millionen Tonnen Meeresboden aus dem Gebiet entfernen, sagte ein Unternehmensvertreter.
Schifffahrt in flachen Gewässern
Laut Aleksandr Bengert, einem führenden Rosatom-Beamten, der sich für die Entwicklung des arktischen Schiffsverkehrs einsetzt, sind die Baggerarbeiten für die Anlage «Arctic LNG 2» und seinem Projektterminal Utrenneye, sowie die der Schiffsroute, die über den Golf führt, verbunden.
Bengert hat seinen Sitz in Murmansk und fungiert als stellvertretender Leiter des Direktorats für den Nördlichen Seeweg von Rosatom.
Das ganze Projekt ist ein komplizierter Vorgang. Der lokale Meeresboden besteht aus gefrorenen Permafrostboden. Spezialschiffe müssen den Boden zuerst in Stücke schneiden, erst danach können Bagger das Material entfernen, sagt Bengert gegenüber der Rosatom-Firmenzeitung.
Der große Aushub wird dazu beitragen, die derzeitige Schiffsroute über die Bucht zu erweitern. Gegenwärtig ermöglicht ein 15 Meter tiefer, 295 Meter breiter und 49 km langer Kanal die Zufahrt der Schiffe zu den Verladestellen. In den nächsten drei Jahren sollen Teile der Fahrspur auf 573 Meter verbreitert werden, sagt der Staatsbeamte. Mindestens 20 Milliarden Rubel (250 Millionen Euro) seien für den Betrieb bis 2022 erforderlich, fügte er hinzu.
Bis zu 60 Millionen Kubikmeter Material werden über einen Zeitraum von drei Jahren abgetragen und abtransportiert, sagt Bengert. Hinzu kommen die großen Mengen, die in den vergangenen Jahren abgetragen wurden.
Im unteren Teil des Ob, welches nun ausgebaggert wird betrug die Tiefe nur 2-3 Meter.
Eis-Schutzwände
Neben dem Ausbaggern ist Rosatom und Hydrographic Enterprise auch am Bau von Meereisschutzwänden beteiligt, die den Schiffen helfen sollen, sicher durch das eisige Wasser der Ob-Bucht zu gelangen.
Es sollen zwei Schutzwände mit einer Länge von 1,3 bzw. 3,1 km gebaut werden, sagt Bengert. Sie werden aus Rohren mit einem Durchmesser von bis zu 2,5 Metern bestehen, die übereinander gestapelt, zur Festigkeit mit Beton gefüllt und in den Meeresboden gerammt werden.
Für den Bau der Schutzwände im Zeitraum bis 2022 werden 80 Milliarden Rubel (100 Millionen Euro) eingeplant, bestätigt der Unternehmensvertreter.
Sorge um die Umwelt
Die großen industriellen Entwicklungen in der Golfregion wecken unter Umweltschützern nun zunehmend Besorgnis unter Umweltschützern. Nach Ansicht von Forschern des Ural-Instituts für Ökologie von Flora und Fauna könnte das Ausbaggern letztlich zum vollständigen Aussterben mehrerer für die Region einzigartiger Meeresarten führen.
Der Forschungsleiter des Instituts, Vladimir Bogdanov, erklärt der Zeitung «Pravda», dass Teile der Ob-Bucht von den Energiekonzernen unberührt bleiben müssen, wenn die empfindlichen Fischbestände erhalten werden sollen. Er verweist insbesondere auf die Gewässer um Kap Trekhburny hin, ein Gebiet, in dem Süßwasser aus der Taz-Bucht in die Ob-Bucht fließt.
„Wenn Baggerarbeiten in diesem Gebiet durchgeführt werden bedeutet es den Tod für die Fischbestände des Ob. Weder der Stör, der Felchen, der Stint noch der Süßwasser-Kabeljau wird es dann noch geben. Die wertvollen Fischarten des Ob werden verschwinden. Es wird ein riesiger Verlust sein, der eigentlich nicht wieder hergestellt werden kann. Das Ökosystem wird vollständig verändert werden“, sagt er der Zeitung.
Laut Bogdanow gab es unter den Forschern große Besorgnis auch wegen der Ausbaggerung um die Verladestelle Sabetta. Hier zeigten sich die Umweltfolgen jedoch geringer als erwartet. In den weniger empfindlichen Teilen des Golfs werden sich die lokalen Ökosysteme im Laufe von 5 Jahren selbst erholen können, argumentiert der Forscher.
Interessenkonflikt
Die Umweltsorgen der Meeresforscher werden so schnell nicht enden. Der Golf von Ob gehört derzeit zu den wichtigsten Gebieten der russischen Ölindustrie. Novatek ist dabei, mehrere große Projekte in diesem Gebiet zu entwickeln. Nach dem «Yamal-LNG» und dem «Arctic LNG 2» werden das «Arctic LNG 3» und das «Arctic LNG 1» folgen, und Gazprom ist dabei, mehrere andere Projekte zu planen, darunter das Kamenno-Mysskoje-Feld und das Semakovsky-Projekt.
Großflächige Baggerarbeiten in der flachen Bucht sind eine Voraussetzung für die industrielle Entwicklungen. Konflikte mit Umweltinteressen werden auch in Zukunft nicht zu vermeiden sein.
Laut Bogdanow betonten Vertreter der russischen Erdöl- und Erdgas-Industrie während einer Arktis-Konferenz Ende 2019, dass Baggerarbeiten in den gefährdeten Gebieten nicht vermieden werden können.
Zu den Projekten, die ausgebaggert werden müssen, gehört auch der Hafen von Novy, ein von Gazprom Neft betriebenes Feld. Tiefere Gewässer werden benötigt, um größere Öltanker zum Projektterminal in der Nähe von Kap Kamenny zu bringen, sagten die Industrievertreter dem Forscher.
Heiner Kubny, PolarJournal