Ursprünglich suchten Orcas nur selten arktische Gewässer auf, da das Meereis eine zu große Gefahr für sie darstellte. Mit dem Klimawandel und dem zurückweichenden Meereis dringen Orcas in den letzten Jahrzehnten jedoch immer weiter in die Arktis vor, wo der Tisch für sie reich gedeckt ist: Grönlandwale, Narwale, Belugas und verschiedene Robbenarten zählen zu ihrer Beute. Vor der Nordküste Alaskas blieben Grönlandwale laut indigener Jäger allerdings lange verschont. Eine aktuelle Studie konnte nun erstmals beweisen, dass Orcas seit mehreren Jahren auch dort Jagd auf Grönlandwale machen.
Von allen großen Walen ist der Grönlandwal am besten angepasst an das Leben in der Arktis. Sie leben fast ausschließlich in saisonal eisbedeckten Gewässern und schützen sich mit einer bis zu 50 Zentimeter dicken Speckschicht, dem Blubber, vor den eisigen Temperaturen. Dank ihres massiven Schädels, mit dem sie 60 Zentimeter dickes Eis aufbrechen, können sie sich weit ins Eis hineinwagen. Im Frühjahr und im Herbst migrieren die Grönlandwale entlang der Nordküste Alaskas in der westlichen Beaufortsee und östlichen Tschuktschensee, wo indigene Gemeinden Subsistenzjagd auf sie machen.
In den letzten Jahren hat sich das arktische Ökosystem schnell verändert durch die Erwärmung und den Verlust an Meereis. «Die Ausdehnung des Meereises im Sommer und Herbst […] hat in den letzten Jahren dramatisch abgenommen. In dieser Region gab es auch ein früheres saisonales Schmelzen des Meereises, eine spätere saisonale Bildung von Meereis und dünneres Meereis», sagt Amy Willoughby, Wissenschaftlerin an der University of Washington und Leiterin der Studie.
Somit fehlt den Grönlandwalen immer mehr das Meereis als Rückzugsgebiet, in dem sie vor Orcas sicher sind. Im Gegensatz zu Schwertwalen in der Antarktis meiden die arktischen Orcas das Meereis.
«Bisher ging man davon aus, dass die Grönlandwale in der US-amerikanischen Arktis einem minimalen Räuberdruck durch Schwertwale ausgesetzt sind. Unsere Studie legt nahe, dass dies nicht mehr der Fall ist», sagt Willoughby. «Wir wissen jetzt, dass in den Jahren 2009-2018 der Räuberdruck durch Schwertwale die Haupttodesursache für die in der Region beobachteten Grönlandwale war.»
Erste direkte Beweise
Im Jahr 2009 begann das vom Bureau of Ocean Energy Management finanzierte und von NOAA Fisheries durchgeführte Projekt Aerial Surveys of Arctic Marine Mamals (ASAMM) mit der Fotodokumentation von Walkadavern. Bilder von Kadavern von Grönlandwalen wurden an Experten im Bezirk North Slope geschickt, um die Todesursache zu ermitteln.
Die Wildtiertierärztin Raphaela Stimmelmayr vom North Slope Borough Department of Wildlife Management in Utqiaġvik (ehemals Barrow) erläuterte den Prozess:
«Schwertwale sind bemerkenswerte Jäger verschiedener mariner Beutetiere. Sie setzen variable Jagdstrategien ein, entweder kooperativ oder individuell, je nach Art der Beute. Vieles von dem, was wir über die Jagdtechniken der Schwertwale auf Bartenwale und die daraus resultierenden Verletzungen wissen, wurde durch Augenzeugenberichte über Schwertwalangriffe von einheimischen Jägern, Biologen und kommerziellen Walfängern bekannt.
Bei der Auswertung von Fotos, wie wir es in diesem Fall getan haben, folgt man der Spur der Beweise, indem man die wichtigsten forensischen Anzeichen beurteilt. Wir betrachten die Art der Verletzung, die Bissmuster und die Stelle am Körper, um festzustellen, ob die vorliegenden Beweise mit dem Angriff durch Schwertwale übereinstimmen. Manchmal gibt es angesichts des Ausmaßes der äußeren Verletzungen, wie fehlende Kiefer, fehlende Zunge, halbkreisförmige Bissspuren oder Kratzspuren, keinen Zweifel. In anderen Fällen kann keine Schlussfolgerung gezogen werden, und die Todesursache bleibt ein Rätsel.»
Vor allem ein Foto aus dem Jahr 2015, das den Kadaver eines Grönlandwalkalbs zeigt, veranlasste die Forscher alle Fotos von Grönlandwalkadavern zwischen 2009 und 2018 zu überprüfen. «Soweit wir wissen, war dies der erste dokumentierte Fall eines Schwertwalangriffs auf einen Grönlandwal in der östlichen Tschuktschen- und westlichen Beaufortsee“, sagt Willoughby. «In den darauf folgenden Jahren sahen wir mehr Buckelwale mit Verletzungen, die mit einem Angriff von Schwertwalen übereinstimmten. Das brachte uns zu der Frage, ob es frühere Berichte über Angriffe gab, die nicht bemerkt worden waren.»
Im Rahmen ihrer Auswertung stuften die Wissenschaftler 18 von 33 dokumentierten Kadavern zwischen 2009 und 2018 als von ‘Schwertwalen schwer verletzt’ ein.
Erwärmung eröffnet neue Jagdmöglichkeiten für Schwertwale
Beobachtungen deuten darauf hin, dass Orcas erst in den letzten Jahren damit begonnen haben, vor der Nordküste Alaskas Grönlandwale zu jagen. Die erfolgreiche Jagd von Schwertwalen auf Grönlandwale im Untersuchungsgebiet war vor dieser Studie weder durch wissenschaftliche Forschung noch durch das Wissen der einheimischen Indigenen dokumentiert worden. Dass Orcas in der Region Jagd auf Grauwale machen und in der russischen Arktis auch auf Grönlandwale, war dagegen gut bekannt. Indigene Jäger in Alaska beobachten jedoch bei den von ihnen erlegten Grönlandwalen Narben, die von nicht-tödlichen Schwertwalangriffen stammten.
Auch wenn im Rahmen des ASAMM-Projekts erst seit 2009 Fotos von Grönlandwalkadavern gemacht werden, gab es in den 30 vorherigen Projektjahren keine Hinweise über Schwertwalangriffe auf lebende Grönlandwale. Die erste Sichtung von Schwertwalen stammt aus dem Jahr 2012.
«Wir beobachten seit 35 Jahren die Narben von erlegten Grönlandwalen. Wir stellten Narben von Schwertwalangriffen, Fischernetzen und Zusammenstößen mit Schiffen fest. Wir wussten, dass die Grönlandwale von Schwertwalen angegriffen wurden. Einheimische Jäger auf der St.-Lorenz-Insel in Alaska hatten von Kadavern von Grönlandwalen berichtet, die wahrscheinlich von Schwertwalen getötet worden waren. Aber wir hatten keine Beweise für eine erfolgreiche Jagd in der östlichen Tschuktschen- und westlichen Beaufortsee. Jahrzehntelang fanden wir jedoch tote Grauwale, die Opfer von Schwertwalangriffen wurden, entlang der amerikanischen Tschuktschenküste», sagt Craig George, pensionierter Biologe vom North Slope Borough Department of Wildlife Management in Utqiaġvik, Alaska. «Wir haben jetzt direkte Beweise dafür, dass Schwertwale in den letzten 10 Jahren in den arktischen Gewässern der USA Grönlandwale erlegten.»
Blick in die Zukunft in einer sich verändernden Arktis
«Wir wissen noch nicht, welche langfristigen Auswirkungen die Jagd der Schwertwale auf die Grönlandwale haben wird», so Willoughby. Sie sieht jedoch eine Reihe von potentiellen Effekten auf die westarktischen Grönlandwale und die Subsistenzgemeinschaften, die um sie herum entstanden sind.
Zusammen mit der Entnahme der Grönlandwale aus der Population könnte der Räuberdruck der Schwertwale das Verhalten der Grönlandwale beeinflussen. Er könnte die Grönlandwale dazu zwingen, weiter vor die Küste zu wandern oder sie könnten in flachem Wasser in Küstennähe bleiben. Die Anwesenheit von Schwertwalen könnte die Nahrungsaufnahme der Grönlandwale stören. Möglicherweise werden sie aber auch überhaupt nicht wesentlich beeinträchtigt.
«Grauwale sind in der nordöstlichen Tschuktschensee weit verbreitet, und in jüngerer Zeit scheinen Finn- und Buckelwale weiter nach Norden in die Arktis zu ziehen. Schwertwale könnten stattdessen diese Arten ins Visier nehmen», überlegt Willoughby.
Mit der weiteren Erwärmung der Arktis, könnten noch ganz andere Faktoren einen zunehmenden Einfluss haben. «Da das Meereis schmilzt, wird erwartet, dass der Schiffsverkehr und die kommerzielle Fischerei in diesen Gewässern zunehmen werden. Das könnte sich weiter auf die Grönlandwale in dieser Region auswirken. Die Erwärmung könnte sich auch auf die Nahrungsquellen der Grönlandwale oder andere biologische Funktionen auswirken», erklärt Willoughby. «Unsere Studie liefert Erkenntnisse für die Interpretation zukünftiger Informationen über die Sterblichkeit und Todesursachen von Grönlandwalen.»
Im nächsten Schritt werden die Forscher Fotos aus dem Jahr 2019 auswerten, dem letzten Erhebungsjahr für das Projekt. Laut Willoughby deuten vorläufige Ergebnisse darauf hin, dass 2019 – eines der eisärmsten Jahre, das sie bei diesen Erhebungen gesehen haben – den bisher höchsten Räuberdruck aufwies.
Julia Hager, PolarJournal