Zweitniedrigste Meereisausdehnung in der Arktis verzeichnet | Polarjournal
Die MOSAiC-Expedition, die Mitte August den Nordpol erreicht hatte, fand statt einer geschlossenen Eisdecke ein Patchwork aus Schollen und offenen Wasserflächen vor. Die «Polarstern» konnte beinahe ungehindert den nördlichsten Punkt der Erde durchfahren. Bild: Folke Mertens, AWI

Jeweils Mitte September blicken die Augen der Welt in Richtung verschiedenere Forschungsinstitute, die sich mit den globalen Schnee- und Eisdaten befassen. Gespannt werden die Angaben zur jährlichen Meereisausdehnung in der Arktis abgewartet, aus der sich am schnellsten erwärmenden Region der Erde. Dieses Jahr war die Spannung besonders hoch, denn in verschiedenen Gebieten der Arktis hatten Rekordtemperaturen, frühe Eisschmelzen und massive Brände im Frühling und Sommer für Schlagzeilen gesorgt. Nun sind die Daten auf dem Tisch und zeigen, dass die Ausdehnung des Meereises die zweitniedrigste Fläche seit Beginn der Aufzeichnungen erreicht hat.

Sowohl das deutsche Alfred-Wegener-Institut AWI und die Universität Bremen wie auch das US-amerikanische National Snow and Ice Data Center vermeldeten Mitte September eine Ausdehnung von 3.74 – 3.80 Millionen Quadratkilometer Eis in der Arktis. Dies liegt nur gerade rund 500’000 Quadratkilometer über dem Negativrekord von 2012 von 3.27 Millionen Quadratkilometer. Während die Bereiche zwischen Kanada, Ostgrönland und dem Nordpol auf den ersten Blick eine Eisdecke zeigen, konnten die Satellitenmessungen der Eiskonzentration zeigen, dass weite Teile nur eine schwache Konzentration von Meereis aufwiesen und die Küsten von den USA über die russischen Arktis-Inseln bis nach Svalbard bis weit in den Norden komplett eisfrei waren. Auch die ansonsten ganzjährig mit dickem Meereis bedeckten Küsten Nordgrönlands zeigten nur eine dünne Konzentration von Eis. Die MOSAiC-Expedition unter der Leitung des AWI entdeckte am Nordpol statt einer geschlossenen Eisdecke nur ein Mosaik von Schollen und Wasserflächen.

Die beiden Karten zeigen die Meereiskonzentration und ihre Ausdehnung in der Arktis am 15. September 2020. Die rote Linie zeigt die zu erwartenden Ausdehnung aufgrund der Durchschnittswerte zwischen 1981 – 2010. Je blauer die Fläche, desto weniger Eis wurde gemessen. Karten: Meereisportal und NSIDC

Eine wirkliche Überraschung sind die veröffentlichten Daten nicht. Denn bereits im Frühling hatten Satelliten- und Feldmessungen in der russischen Arktis sehr dünnes Meereis verzeichnet, dass auch noch schnell aufgebrochen und verschwunden war. Dadurch konnte die Sonneneinstrahlung bereits im März das Wasser aufwärmen. Die gespeicherte Wärme wurde dann mit Winden nach Norden getrieben und verstärkte die Abschmelzung. In den russischen Randmeeren, in der Barentssee und in der Tschuktschensee lag die Wassertemperatur an der Oberfläche bis 4.5 Grad über dem Durchschnitt. «Wir gehen davon aus, dass es bedingt durch das stabile Hochdruckgebiet über der zentralen Arktis im Juli und August deutlich mehr wolkenlose Tage gab,» sagt Dr. Monica Ionita, Klimaforscherin am AWI. «Dadurch konnte die sonst durch Wolken verringerte einfallende Sonneneinstrahlung in diesem Jahr ebenfalls zur Eisschmelze beitragen.»

Eine geschlossene Eisdecke besteht normalerweise aus zahlreichen dicken Schollen, die durch die Winde zusammengeschoben werden und miteinander festfrieren. Doch die Wärme von oben und von unten zusammen mit veränderten Windsystemen lassen die Schollen immer schneller und häufiger auseinanderbrechen. Bild: Michael Wenger

Zusätzlich genährt wurde die Schmelze durch ungewöhnlich hohe Lufttemperaturen Mai und Juni in weiten Teilen der russischen Arktis. «Diese Wärme schmolz zunächst das dünne Meereis in der Laptewsee, anschliessend beschleunigte sie den Rückzug des Eises in der Ostsibirischen See, sodass die russische Arktis bereits im Juni dieses Jahres rund eine Million Quadratkilometer weniger Meereis aufwies als in den sieben Jahren zuvor,» erklärt der Meereisphysiker Professor Christian Haas vom AWI. Die Expeditionsteilnehmer der MOSAiC notierten auch in den zentralen Bereichen der Arktis höhere Temperaturen als normal, bis zu 6°C. Diese warmen Luftmassen und die resultierenden Windveränderungen (u.a. ein sehr schwerer Sturm in der kanadischen Arktis) liessen die Schollen auseinanderbrechen. Gleichzeitig verzeichneten Messbojen höhere Wassertemperaturen an der Oberfläche, hervorgerufen durch Wassermassen, die normalerweise in 150 Meter Tiefe auftreten. Diese hatten bereits im Winter für dünneres Eis als normal gesorgt. Damit war eine schnellere Abschmelze im Frühjahr und Sommer vorprogrammiert. Es stellte sich also nicht die Frage, ob ein unterdurchschnittliches Jahr erreicht werden würde, sondern nur noch wieviel es sein würde. Die Antwort, die traditionell zwischen Mitte und Ende September geliefert wird, zeigt weiterhin nach unten.

Das rasante Abschmelzen des Meereises bringt viele arktische Bewohner wie Walrosse in Bedrängnis. Denn ihr Lebensraum verschwindet wortwörtlich unter ihren Füssen/Flossen. Der Trend ist seit Beginn der Satellitenmessungen negativ (kleines Bild), eine Erholung nicht in Sicht. Bild: Michael Wenger / NSIDC

Dr. Michael Wenger, PolarJournal

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