Bisher gibt es nur sehr wenige Länder, die entschlossen Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels ergriffen haben. Die Befürchtungen, dass die zaghaften Bemühungen der großen Industriestaaten zu spät kommen, sind nicht nur unter Wissenschaftlern groß. Da wäre eigentlich jede wirksame Methode willkommen, die dazu beiträgt, die globale Erwärmung so gut wie möglich zu begrenzen, weshalb schon vor mehreren Jahren technische Ansätze aufkamen, z.B. zur Entfernung von Treibhausgasen aus der Atmosphäre. Kalifornische Forscher haben nun ein Verfahren vorgeschlagen, mit dem der Schmelzprozess des arktischen Meereises verlangsamt werden kann.
Das wichtigste Merkmal des Meereises ist die Fähigkeit, das Sonnenlicht zu reflektieren. Mindestens seit dem Erscheinen von Homo sapiens auf der Erde haben die gefrorenen Meere rund um die Pole wie ein riesiger Sonnenschirm gewirkt, der dazu beiträgt, den Planeten kühl und sein Klima stabil zu halten.
Doch jetzt verschwindet ein Großteil dieses Eises in rasantem Tempo. Die steigenden Temperaturen haben die Arktis in einer selbstzerstörerischen Rückkopplungsschleife gefangen: Je wärmer es wird, desto mehr reflektierendes Eis verschwindet und mehr der dunklen, Sonnenwärme absorbierenden Wasserfläche wird freigelegt. Das wärmere Wasser beschleunigt das Schmelzen, was eine noch stärkere Absorption von Wärme bedeutet, die weiteres Schmelzen vorantreibt – und so weiter in einem Teufelskreis, der mit ein Grund dafür ist, dass sich die Arktis etwa doppelt so schnell erwärmt wie der Rest des Planeten.
Einige Forscher fühlen sich angesichts der düsteren Aussichten dazu getrieben, unkonventionelle Maßnahmen zu ergreifen. Ein Vorschlag des in Kalifornien ansässigen gemeinnützigen Vereins Arctic Ice Project erscheint ebenso gewagt wie bizarr. Ihre Idee ist es, eine dünne Schicht reflektierenden Glaspulvers über Teile der Arktis zu streuen, um sie vor der Sonneneinstrahlung zu schützen und das Nachwachsen des Eises zu fördern. «Wir versuchen, diese Rückkopplungsschleife zu durchbrechen und mit dem Wiederaufbau zu beginnen», sagt Ingenieurin Leslie Field, Lehrbeauftragte an der Universität Stanford und Gründerin der Organisation. Sie hofft, dass durch die Wiederherstellung des Meereises, dieses seine Funktion als planetarische Klimaanlage wieder aufnimmt.
Unter (Klima-)Wissenschaftlern sind solche technologischen Eingriffe in das natürliche System der Erde, «Geo-Engineering» genannt, sehr umstritten, da die Folgen nicht absehbar sind und mögliche Nebenwirkungen weiteren Schaden anrichten könnten.
Emily Cox untersucht an der Universität Cardiff die Klimapolitik und die Einstellung der Öffentlichkeit gegenüber Geo-Engineering und sagt, dass «der völlige Mangel an Fortschritten beim Klimaschutz in Wirklichkeit einen Raum eröffnet, in dem all diese [Geo-Engineering] Dinge diskutiert werden können.» Die Unsicherheit kann durch die Dringlichkeit jedoch nicht genommen werden. «Was tun Sie, wenn etwas schief geht… besonders in der Arktis, die bereits ein ziemlich empfindliches Ökosystem ist?»
Field startete das Arctic Ice Project im Jahr 2008. Ihr Plan ist, reflektierendes Material auf junges Meereis aufzubringen, um es während der Sommermonate zu schützen. Mit diesem zusätzlichen Schutz könnte sich stabiles, mehrjähriges Eis bilden. Sie entschied sich als Material winzige, reflektierende Kügelchen aus Kieselsäure, oder Siliziumdioxid, zu verwenden, das natürlicherweise in den meisten Sanden vorkommt und zur Herstellung von Glas verwendet wird. Diese kleinen Glasperlen mit einem Durchmesser von 65 Mikrometern sind hohl, so dass sie auf dem Wasser schwimmen und das Sonnenlicht auch dann reflektieren, wenn das Eis zu schmelzen beginnt.
Tests in Seen und Teichen in Kanada und der USA brachten ermutigende Ergebnisse: Eis auf einem Teich in Minnesota wurde durch das Ausbringen von Kieselsäurekugeln um 20 Prozent reflektierender. Nachdem das unbehandelte Eis bereits geschmolzen war, befand sich im behandelten Abschnitt noch etwa 30 Zentimeter dickes Eis.
In der Arktis sollen die Kügelchen laut Field nur in den Regionen ausgebracht werden, in denen das Eis besonders schnell schmilzt, wie z.B. in der Framstraße zwischen Grönland und Spitzbergen. Field erklärt, dass die Silikaperlen sicher sind, weil Kieselsäure in der Natur so reichlich vorhanden ist.
Wissenschaftler sind sich zwar einig über die guten Absichten, sind jedoch besorgt über die möglichen Auswirkungen auf das Ökosystem der Arktis. Zum einen könnte zu viel Licht von den Perlen reflektiert werden, das dem unter dem Meereis lebenden pflanzlichen Plankton fehlen würde. Darüberhinaus sind die Kügelchen in etwa so groß wie Kieselalgen, die dem Zooplankton als Nahrung dienen. Karina Giesbrecht, Ozeanchemikerin und Ökologin an der kanadischen Universität von Victoria, befürchtet, dass Copepoden (Ruderfußkrebse) die Perlen fressen könnten, ohne dabei Nährstoffe aufzunehmen. Verhungern die Tiere an der Basis des Nahrungsnetzes hat dies Auswirkungen für alle darüber stehenden Arten.
Die Auswirkungen auf das Plankton will Field noch untersuchen und gegebenenfalls die Perlen so anpassen, dass sie sicherer werden.
Cecilia Bitz, Atmosphärenwissenschaftlerin an der University of Washington, und Mark Serreze, Klimawissenschaftler am US National Snow and Ice Data Center an der University of Colorado Boulder, betrachten solche Ansätze als Notlösung für den Klimawandel, da sie nur einzelne Symptome – im Falle von Silikastaub die Temperaturen – behandeln und nichts gegen die Ursache des Klimawandels unternehmen. Wenn Fields Strategie wie beabsichtigt funktioniert, «ist das wunderbar», sagt Bitz, «aber ich weiß, dass es funktionieren wird, gar kein CO2 auszustoßen.»
Field stimmt zu, dass Geo-Engineering in keiner Weise ein Ersatz für die Reduzierung von Kohlendioxidemissionen ist. Sie sieht darin vielmehr eine Chance, die Zeit zu gewinnen, die die Weltwirtschaften brauchen, um sich zu dekarbonisieren und die schlimmsten Auswirkungen des Klimawandels abzuwehren. Die Silika-Perlen, sagt sie, seien «der Backup-Plan, von dem ich hoffte, dass wir ihn nie brauchen würden.»
Julia Hager, PolarJournal; Quelle: BBC, Katya Zimmer