In den heutigen Zeiten dominieren die Geschichten von einfachen Durchfahrten durch die einst berüchtigte Nordostpassage und von den massiven Eisrückgängen in der Arktis. Doch es gab eine Zeit, in der das Ganze völlig anders aussah. 1983 war der Wintereinbruch im östlichen Teil der russischen Arktis durch abnormale Eisbedingungen gekennzeichnet. In unserer Zeit der globalen Erwärmung, in der reguläre Schiffe auch im Spätherbst in Gebieten mit geringem Risiko entlang der Nordostpassage fahren, ist es kaum zu glauben, dass noch vor 37 Jahren dieselbe Routineschiffspassage als Katastrophe enden könnte.
Seit Mitte September 1983 gefährdeten die rasch sinkende Lufttemperatur und der starke Wind, der stetig aus Nordwesten wehte, ernsthaft die Schifffahrt an der Nordküste von Tschukotka. Von allen regionalen Häfen war nur Pevek für bis zu 30 sowjetische Schiffe in der Region zugänglich. Bald wurde die Situation in der Longa-Strasse – dem breiten Kanal, der die Wrangel-Insel vom eurasischen Kontinent trennt – kritisch. Massen von mehrjährigem Eis, die von Winden in der 150 km breiten Meerenge gestaut wurden, fingen mehrere Schiffe ein, darunter die 1970 in Ostdeutschland gebaute MV „Nina Sagaidak“ mit einem Eigengewicht von 4600 Tonnen. Das Schiff gehörte der in Wladiwostok ansässigen Far Eastern State Shipping Company und war zusammen mit ihrem Schwesterschiff „Kolya Myagotin“ und einigen anderen Schiffen an der Versorgung abgelegener Polaranlagen beteiligt.
Anfang Oktober 1983 wurde der Kapitän der „Nina Sagaidak», V. Sorokin, unter sich verschlechternden Bedingungen befohlen, zusammen mit den Tankschiffen „Kamenets-Uralsky“ und „Urengoy“ die Longa-Strasse in östlicher Richtung zu durchqueren. Zu diesem Zeitpunkt hatte die „Nina“ bereits den grössten Teil ihrer Fracht entladen und sogar einen Teil der Besatzung in einer der Siedlungen auf dem Festland zurückgelassen. Es gab jedoch noch einige Orte, die östlich von Pevek bedient werden mussten. Der kleine Konvoi wurde zuerst vom Eisbrecher „Leningrad“ und dann von der „Kapitan Sorokin“ begleitet. Beide dieselelektrischen Eisbrecher wurden 1961 bzw. 1976 in Finnland gebaut.
Die Schiffe befanden sich bereits am östlichen Eingang der Strasse von Longa, als sie in der Nähe von Kosa Dvukh Pilotov (68 ° 28’21 ″ N 178 ° 04’59 ″ W) in ernsthafte Schwierigkeiten gerieten. Diese niedrige und schmale Küsteninsel erhielt ihren Namen zu Ehren des legendären amerikanischen Polarpiloten Carl Ben Eielson und seines Mechanikers Earl Borland, dessen Flugzeug Ende 1929 in der Gegend abgestürzt war. Am frühen Morgen des 5. Oktober 1983 erreichte der Eisbrecher „Kapitan Sorokin“ die Insel, im Schlepptau die fünf Handelsschiffe – die Tanker „Kamenets-Uralsky“ und „Urengoy“, die Frachter „Nina Sagaidak“ und „Pioner Uzbekistana“ und den Eisverstärkten Frachter „Amguema“. Um 5 Uhr morgens blieb der Konvoi im Eis stecken, das eine Dichte von zehn auf der bis zehn gehenden Eisdichteskala aufwies. Die „Nina“ und zwei Tanker befanden sich buchstäblich im Fluss des Eises und trieben nach Osten entlang des Festeisgürtels.
Oben rechts – die Übersichtskarte des Gebiets der Longa-Strasse aus „Ice Conditions and Human Factors in Marine Accidents at the Arctic“ by Natalia Marchenko, International Journal on Marine Navigation and Safety of Sea Transportation, December 2009, vol.3, No.4, pp.409-414. Bild: Unbekannter Fotograf, via www.polarpost.ru Bild: Unbekannter Fotograf, via www.polarpost.ru
Am Abend des 6. Oktober wurde „Nina“ unter enormen Druck an den Rand des Festeisgürtels gedrückt. Sowohl das Ruder als auch der Propeller wurden durch Eis blockiert, während die Lenkmaschine durch eine heftige Ruderdrehung komplett beschädigt wurde. Später an diesem Tag trafen zuerst die „Kamenets“ und dann die „Urengoy“ auf die „Nina“ und die drei Schiffe trieben eine halbe Stunde lang zusammen. Am Morgen des 7. Oktober kam es erneut zu einem Aufprall, bei dem der Rumpf der „Nina“ brach. Das Wasser stieg schnell an, zuerst in ihren Laderäumen, dann im Maschinenraum, während Bilgenpumpen den Wassereintritt nicht stoppen konnten. Zusätzlich zu all diesen Nöten brach im überfluteten Maschinenraum ein Feuer aus, das aber bald von der Feuerwehr gelöscht wurde. In der Zwischenzeit war die „Nina“ aber stark nach Steuerbord (rechts) gekippt. Dies zwang den Commodore des Konvois, ihre Aufgabe anzuordnen. Alle 52 Besatzungsmitglieder wurden mit Hubschraubern von „Kapitan Sorokin“ und dem nahe gelegenen Eisbrecher „Wladiwostok“ evakuiert. Obwohl einige Anstrengungen unternommen wurden, um den Frachter mit Hilfe der Notpumpen der „Sorokin“ zu retten, sank die „Nina Sagaidak“ schliesslich in der Nacht vom 9. Oktober 1983.
Ein früherer Vorfall in der russischen Arktis. Am 2. September 1980 sank der Holztransporter „Bryanskles“ in der Laptevsee aufgrund der Rumpfschäden, die durch die Kollision mit Eisbrocken verursacht wurden, als er dem nuklearen Eisbrecher „Arktika“ folgte. Bilder Aus der Sammlung der Smirnov unter www.fleetphoto.ru Ein früherer Vorfall in der russischen Arktis. Am 24. Oktober 1965 sank der in Polen gebaute Holztransporter „Vitimles“ aufgrund der Eisschäden im Ostsibirischen Meer. Aus dem Archiv von A.Blotner, veröffentlicht unter: https://fleetphoto.ru
Die „Kolya Myagotin“ erlitt schwere Schäden, erreichte jedoch Wladiwostok zur Reparatur. 1985 ereignete sich ein ähnlicher Vorfall mit leichterem Ergebnis an der „Nina Kukoverova“ von der Murmansk State Shipping Company und weiteren Schwesterschiff der „Nina Sagaidak“. Daneben ging 1989 ein einzigartiges Tiefsee-Atom-U-Boot, die „Komsomolets“ der sowjetischen Nordflotte bei einem Brand in der Nähe der Bäreninseln verloren. Die „Nina Sagaidak“ war jedoch das letzte Handelsschiff, das aufgrund des Eisdrucks in der russischen Arktis versank.
Zum Autor:
Dmitrii „Mitya“ Kiselev ist Historiker, Autor, Dozent und professioneller Expeditionsführer. Dmitrii arbeitete fast ein Jahrzehnt in der Arktis und Antarktis und entwickelte ein starkes Interesse an der Geschichte der Polarforschung, der menschlichen Besiedlung und des Überlebens. Als unabhängiger Experte für die Geschichte der russischen Arktis zeigt Dmitrii eine besondere Begeisterung für Franz Josef Land und seine bunte Vergangenheit. Seit 2014 veröffentlichte er mehrere Artikel in der Zeitschrift „The Russian Polar Explorations“ (St. Petersburg) und anderen russischen Zeitschriften. Dmitrii betreibt auch seine spezielle „Mitya Polar Curiosity Shop“ -Seite auf Facebook.
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