Der Wind heult und faucht. Der eisig kalte Schnee pfeift uns um die Ohren. Die trockenen Schneeflocken schmerzen auf der Haut und ohne Schneebrille wäre es gänzlich unmöglich die Augen in diesem Schneegestöber offenzuhalten. Seit Stunden kämpfen wir uns damit ab etwa 100 kg Ausrüstung auf zwei Schlitten die eisigen Bergflanken hinaufzuziehen. Mittlerweile ist es Mittag geworden und wir haben es geschafft den Generator, die Bohrmaschine, all die Seile und Karabiner die halbe Strecke hinaufzubefördern. Es ist stockfinster und der wütende Schneesturm macht es schwer die eigene Hand vor den Augen zu sehen. Wir zittern nicht nur wegen der gefühlten -20°C, sondern auch erschöpft von den Strapazen, die wir uns aufgehalst haben. Was für eine verrückte Idee hat mich da nur wieder geritten?
Seit Jahren schon faszinieren mich die eisigen Welten. Insbesondere die Gletscher, die in ihrer majestätischen Gewalt, die Bergflanken hinabkriechen, haben es mir angetan. Das ewige Eis reflektiert die einstige Urgewalt der Natur und zeigt mir immer wieder wie winzig klein und unbedeutend wir Menschen doch eigentlich sind. Eis hat, in seiner rohen Gewalt, die Macht, uns in unsere Schranken zuweisen. Doch was einst als ewig galt, ist längst nicht mehr beständig.
Das jungfräulich weiße Kleid, welches Gletscher im Winter einhüllt, weicht im Sommer einer schmutzig blau-schwarzen Tracht. Tosende Fluten rauschen im Sommer über die Oberflächen von Gletschern hinweg, transportieren die einstige Pracht hinfort und dezimieren die Gletscher gänzlich in ihrer Größe. Die gewaltige Kraft des Wasser hinterlässt Spuren: Tiefe Schmelzwasserkanäle werden vom Wasser in die Oberfläche des Eises hineingefressen. Doch die brodelnden Massen machen nicht an der Oberfläche halt. Tiefschwarze Schächte öffnen sich auf der Oberfläche von Gletschern: Die Gletschermühlen. Gurgelnd und laut tosend verschwindet das Wasser hier in die gähnende Tiefe; donnert hinab in den bodenlosen Abgrund, tief in das Innerste des Gletschers hinein, bevor es wild rasend unterhalb des Gletschers wieder hervorkommt. Gebannt habe ich dieses Demut einflößende Schauspiel immer und immer wieder aufs Neue beobachtet. Dabei geisterte ständig eine Frage durch meinen Kopf: Was passiert eigentlich da unten? Was passiert, nachdem das Wasser unter der Oberfläche verschwunden ist?
Gerade in den Polarregionen, wo es das ganze Jahr über eisig kalt ist, kann es vorkommen, dass Gletscher durch und durch gefroren sind, bei Eistemperaturen weit unter 0°C. Mit dem Effekt, dass die Gletscher dort, wo sie auf dem Berg aufsitzen, festgefroren sind. Der Untergrund unter den Gletschern ist dabei dauerhaft gefroren, man spricht von Permafrost. Letzterer ist in vielen Regionen der Welt, aufgrund der derzeitigen globalen Veränderungen, stark auf dem Rückgang. Diese erschreckend schnellen Veränderungen haben in mir die Frage aufgeworfen, ob sich auch der Permafrost tief unter den Gletschern ändert. Auf der Suche nach Antworten musste ich jedoch feststellen, dass es dazu keinerlei Messungen gab. Der Gletschergrund galt als unzugänglich und Messinstrumente würden in dieser heimtückischen und teuflischen Umgebung sowieso nicht überleben. Auf meine Idee hin, die Temperaturen im Gletschergrund zu untersuchen, erklärten mir einige Gletscherforscher zusätzlich, dass sich dies nicht lohnen würde. Es braucht hunderte, gar tausende von Jahren, bevor sich dort unten irgendetwas ändert. Die Physik sei eindeutig.
Wirklich überzeugt haben mich diese Argumente aber nicht. Was folgte waren fünf Jahre harter Arbeit, mit unzähligen Tagen weit über die körperliche Schweiß- und Schmerzgrenze hinaus. Dabei immer den wilden Elementen der Natur ausgesetzt. Schlitten für Schlitten habe ich, zusammen mit unzähligen fantastischen Helfern, tonnenweise Ausrüstung steile, vereiste Bergflanken hinaufgezogen. Einmal ist das Zugseil des Schlittens unter der Last gerissen und der Schlitten ist in die Tiefe gerast. Ein andermal hingen wir drei Tage am Seil und haben uns durch 40 Meter Schnee hindurch in die Tiefe des Gletschers gegraben. Bei manch waghalsiger Aktion, sind wir mehr als 100 Meter tief unter Gletscher geklettert, sind mit einem 100.000€ teuren Messgerät durch einen unterirdischen See gewatet, haben uns mit einer Bohrmaschine durch enge Passagen gezwängt, sind hunderte von Metern auf dem Rücken unter dem Eis hindurchgerobbt, haben Verlängerungskabel in Gletschermühlen verlegt und jede Menge Löcher in das Gestein unter dem Eis gebohrt. Immer auf der Suche nach Antworten.
Spitzbergen, weit nördlich von Norwegen, gerade einmal 1300 km vom Nordpol entfernt gelegen, wird regelmäßig auch als „Ground Zero des Klimawandels“ bezeichnet. Hier offenbart sich lange vorher, was die globale Erwärmung in Zukunft in anderen Teilen der Welt noch bereithalten wird. Noch ist die Inselgruppe geprägt von Eis, Permafrost und eisigem Wind. Doch dieses Bild ändert sich gerade rasend schnell, regelmäßig werden neue Temperaturrekorde gebrochen, bis zum Jahr 2100 werden gar 10°C Temperaturanstieg erwartet. Der Schnee kommt immer später und die einstige Kältewüste wird immer nasser. Regen galt hier einst als Besonderheit, mittlerweile schüttet es jedoch sowohl im Sommer, als auch im Winter regelmäßig eimerweise. Der Permafrostboden taut in rasantem Tempo und die Gletscher schwinden dahin wie das Eis eines Kindes an einem heißen Julitag. Ein Rekord jagt den anderen.
Spitzbergen ist der Ort, an dem ich beschlossen habe, den ablaufenden Veränderungen weiter auf den Grund zu gehen. Gletscher für Gletscher haben wir hier Abflusssysteme unter dem Eis kartiert, Temperaturen gemessen und dabei so manche Überraschung erlebt.
Getrieben von Neugier, haben wir Temperatursensoren bis zu 1,1 Meter Tiefe im Gestein unter verschiedenen Gletschern versenkt. Das mag zunächst nicht nach viel klingen, ist es aber, wenn man bedenkt, dass die dafür nötige Ausrüstung zunächst von Hand auf den Berg hochgeschleppt, dann bis zu 100 Meter tief unter den Gletscher abgeseilt werden muss und dabei auch noch etliche Kriechpassagen und so manches unterirdische Gewässer überwunden werden müssen. Die gemessenen Gesteinstemperaturen waren dabei erwartungsgemäß kalt. Bis zu -6°C haben wir im Winter im Gestein tief unter verschiedenen Gletschern gemessen. Nun würde die Theorie besagen, dass dies das Ende der Geschichte ist. Hier tut sich nichts für hunderte, gar tausende von Jahren. Doch Theorie reicht mir nicht. Ich wollte es genauer wissen und so haben wir einen Teil der Messinstrumente den Sommer über unter dem Gletscher belassen. Mit dem Risiko, dass die reißenden Wassermassen im Sommer diese einfach fortspülen würden. Doch wer nicht wagt, der nicht gewinnt.
Wenn die Instrumente am Ende dann einen turbulenten Sommer unter dem Gletscher überlebt haben, bleibt nur die Herausforderung, dass man, um an die Daten zu kommen, die Instrumente irgendwie zurückbekommen muss. Am besten macht man das im Herbst, nachdem das Wasser aufgehört hat zu fließen und der Schnee, sowie das langsame Kriechen des Eises die Zugänge gerade noch nicht verschlossen haben. Zuletzt haben wir uns im Oktober 2019 auf eine solche Datenrettungsaktion begeben. Dabei galt es unter anderem, mehrere hundert Kilogramm Ausrüstung zu Fuß etwa 20 Kilometer weit zum Gletscher zu ziehen, dort ein Zelt aufzuschlagen, um dann in der Folge die Instrumente zu bergen und neue Messungen durchzuführen.
Schlauer geworden, nach Jahren der Plackerei mit viel zu schweren Schlitten an steilen Bergflanken, hatten wir dieses Mal Hunde mitgebracht. Nicht nur, um uns beim Ziehen zu helfen, sondern auch um uns bei der nächtlichen Eisbärwache vor dem Zelt Gesellschaft zu leisten. Da lag nämlich das nächste Problem: Nach einem anstrengenden Tag kann man sich nicht einfach im Schlafsack verkriechen und von den Strapazen des Tages erholen. Nein, zu jeder Zeit muss jemand wach sein und vor dem Zelt Wache halten, sollte zufällig ein Eisbär auf Nahrungssuche des Weges kommen. Einem Eisbären sind wir an dieser Tour am Ende keinem begegnet, aber auch so hat diese Mission mehr als genug Abenteuer bereitgehalten. Kaum vorhandener Schnee im Spätherbst in der Hocharktis hat den Transport der Ausrüstung über Geröll und nur zaghaft gefrorene Flüsse hinweg unnötig erschwert. Nächtliche Eisbärwache im Regen und rasant schmelzender Schnee haben uns am Ende zum vorzeitigen Rückweg gezwungen, wobei mich ein übereifrig ziehender Hund mit dem Gesicht voraus in einen eisigen Fluss befördert hat. Am Ende standen nicht nur vier am Boden zerstörte Wissenschaftler, erschöpfte Hunde und vier total zerfetzte Schlitten, sondern auch ein unglaublicher Datenschatz.
Am Gletscher angekommen wurden wir von gewaltigen Veränderungen überrascht. Teile des Höhlensystems, in dem wir noch ein halbes Jahr zuvor herumgeklettert sind, waren eingestürzt. Die Temperatursensoren, die wir tief ins Gestein gebohrt hatten baumelten in der Luft, große Eisbrocken lagen verstreut im Inneren der Höhle unter dem Gletscher herum und neue Passagen hatten sich da geöffnet, wo zuvor nur Wände waren. Und auch die eingesammelten Daten sprachen Bände.
Von wegen „keine Veränderungen“: Die Temperaturen unter dem Gletscher waren alles andere als konstant. Den Winter über wurde es langsam immer kälter und kälter, doch kaum kam der Sommer, begannen die Temperaturen zu klettern. Gut, nicht wirklich überraschend, wenn auf einmal Wasser durch das Abflusssystem fließt. Das wirklich überraschende waren schlagartige Temperaturanstiege. Wenn die Gesteinstemperatur in mehr als einem Meter Tiefe innerhalb von vier Tagen von -1,7°C auf +0,2°C ansteigt, dann ist das nicht unbedingt normal und bedeutet das Ende des dortigen Permafrostes. Ein Blick auf die jeweiligen Wetterverhältnisse an der Gletscheroberfläche war dabei sehr enthüllend. Wie sich herausstellte, waren es die Tage mit Rekordschmelze und Regenstürmen an der Gletscheroberfläche, die die größten Temperaturschwankungen unter dem Gletscher verursachten. Doch damit nicht genug. Der Regen eines einzigen Tages hat 90 cm gefrorenes Gestein unter dem Gletscher weggespült. Einfach so. So wird aus einem winzigen Schacht, durch den man sich gerade so hindurchzwängen kann innerhalb weniger Monate eine gewaltige Kaverne, in der man ein ganzes Orchester aufmarschieren lassen könnte. Wie sich der weitere Anstieg der Temperaturen auf Spitzbergen mit der damit einhergehenden Abfolge von Schmelzrekorden und Zunahme an Regenevents auf die Gletscher und den darunter liegenden Permafrost auswirken wird, möchte ich mir eigentlich gar nicht vorstellen. Doch meine Daten geben mir eine düstere Vorahnung auf das, was da noch kommen wird, wenn es beginnt in der Wüste zu regnen.
Zunehmend zeigt sich, dass der Wandel nicht auf der Oberfläche haltmacht, sondern viel tiefer dringt. In einer kürzlich erschienenen Studie haben Forscher Gletschermühlen im Inneren des grönländischen Eisschildes vermessen. Die überraschende Erkenntnis: Mit bis zu 500 m^2 Grundfläche waren die vermessenen Gletschermühlen um mehrere Dimensionen gewaltiger als alles, was man sich bislang vorgestellt oder aufgrund der Öffnung an der Oberfläche her hätte erahnen können. Das, was an der Oberfläche als intakt erscheint, ist im Innersten in Wirklichkeit zutiefst zerfressen und ausgehöhlt, wie ein Kürbis zu Halloween. Mit weitreichenden Konsequenzen für die zukünftige Eisschmelze und den Anstieg des globalen Meeresspiegels. Unter der Oberfläche der eisigen Giganten unseres Planeten schlummert mehr im Verborgenen, als wir bislang erahnten. Noch stehen wir erst ganz am Anfang davon wirklich zu verstehen, was hier vor sich geht. Und doch zeigt sich mehr und mehr, dass in der Tiefe möglicherweise Ungeheuer lauern, die uns in der Zukunft noch so manchen Alptraum bescheren könnten. Damit noch nicht genug. Wo Licht ist, ist auch Schatten. Übertragen auf Spitzbergen bedeutet dies, dass nicht nur im Sommer, wenn es hell ist, Veränderungen geschehen. Nein, auch vor der dunklen Jahreszeit, in der die Sonne niemals über den Horizont kommt, machen die tiefgehenden Veränderungen nicht halt. Doch das ist wieder eine andere Geschichte.
Andreas Alexander ist Doktorand in der Gletscherforschung an der Universität in Oslo. Der Maschinenbauingenieur und Geologe studierte in Deutschland, Alaska, Japan, Grönland und Spitzbergen, wo er auch mehrere Jahre verbrachte. In seiner Doktorarbeit beschäftigt er sich mit der Gletscherhöhlenforschung, sowie mit der Entwicklung neuer Technologien für die Messung in unzugänglichen, überfluteten und hochturbulenten Gletscherhöhlen. Dies dient der Erkenntniserweiterung im Bereich des glazialen Hydrologie und letztlich einer besseren Vorhersage künftiger Meeresspiegeländerungen. Neben seiner Tätigkeit in Wissenschaft und Lehre arbeitet er auch als Guide in der Arktis und Antarktis.
Links zu den Arbeiten: