Kleine Schiffe = grosse Schiffe in der Arktis | Polarjournal
Noch vor 15 Jahren waren Schiffe mit 50 Personen die Regel, heute die Ausnahme. Viele Reedereien haben aus wirtschaftlichen Gründen ihre kleinen Schiffe zurückgegeben oder stillgelegt. Viele Expeditionsveteranen trauern dieser Zeit und den kleinen Schiffen nach. Nur noch wenige Anbieter und Reedereien betreiben heute Schiffe mit einer Kapazität von 12 – 50 Personen. Bild: Michael Wenger

Die Expeditionskreuzfahrtindustrie war in den vergangenen Jahren DER boomende Tourismuszweig. Immer mehr Menschen wollten in den polaren Regionen die Natur und Tierwelt erleben. Angelockt davon zog es auch immer mehr Reedereien dazu hin, ihre Schiffe in die eisigen Welten zu schicken und/oder neue Schiffe, die dafür geeignet sind zu bauen. Doch damit ging auch ein Wachstum bei der Grösse der Schiffe einher und auch bei den Aktivitätsangeboten und der Ausstattung der Schiffe. Doch was geschieht nun mit den früher beliebten kleinen Expeditionsschiffen? Eine persönliche Einschätzung über die Zukunft der Kleinen inmitten der Grossen.

«O tempora, o mores» beklagte der römische Schriftsteller und Politiker Marcus Tullius Cicero vor über 2’000 Jahren den Wandel der Zeiten und der Sitten. Eigentlich passend auch heute noch für die Expeditionskreuzfahrtindustrie. Denn als der Autor dieses Artikels (also ich, nicht Cicero) 2005 zum ersten Mal ein Schiff für eine derartige Reise bestieg und einen Reisebericht verfasst hatte, waren mit ihm etwas mehr als 40 Passagiere mit an Bord. Knapp 15 Jahre später schreibe und lese ich über Expeditionsschiffe, die sich als «klein» bezeichnen und dabei das 10-fache an Passagieren an Bord nehmen und dieselben arktischen Gebiete wie damals auf dem Fahrplan haben. Dazu noch Kajaks, Hubschrauber, U-Boote, Stand-Up-paddling, Massagen, Yoga, Fine Dining und weitere Aktivitäten und Annehmlichkeiten drinnen und draussen anbieten. Vieles davon steht bei den kleinen Expeditionsschiffen (nicht den neugeplanten Superjachten wie der La Datcha wohlgemerkt) nicht auf dem Programm.

Neben den kleinen Expeditionsschiffen sind in Svalbard auch ein paar Segelschiffe unterwegs, die auch um die 30 Personen maximal beherbergen können. Genauso wie die kleinen Motorschiffe werben sie mit Ruhe, viel Natur und der Möglichkeit, dahin zu fahren, wo die grösseren Schiffe nicht hinkönnen. Dies ist für die kleinen Schiffe einer der grössten Vorteile. Bild: Michael Wenger

Ist das ein Nachteil heutzutage und damit das Todesurteil für die kleinen Schiffe? Nein, denn trotz der Frage nach der wirtschaftlichen Rentabilität haben die kleinen Expeditionsschiffe eine Nische und damit auch eine Zukunft. Die Rettung könnte nämlich genau durch das Wachstum der Branche und die damit einhergehende Vielfalt der Typen von Arktisbesuchern kommen. Denn während sich die Reedereien mit ihren grösseren Schiffen verstärkt auf eine Vielzahl von Angeboten konzentrieren, können die jetzt noch verbleibenden kleinen Schiffe gezielt auf diejenigen Gäste ihre Anstrengungen richten, die etwas mehr Wert auf die Nähe zur Natur legen als auf die Ausstattung des Speisesaales; deren Augenmerk auf die Verweildauer an Land liegt statt der Anzahl angesteuerter Landungspunkte; die sich mehr um ihre Kameraausrüstung kümmern als um die Geschwindigkeit der Internetverbindung.

Kleine Expeditionsschiffe sind durchaus komfortabel und mit vielen Annehmlichkeiten ausgestattet, mit viel Liebe für Details. Häufig sind die Innenbereich eine gelungene Mischung aus Style, Praktikabilität und Komfort wie hier der Bar-Bereich der Spirit of Enderby. Bild: Nathan Russ, Heritage Expeditions.

Verstehen Sie mich nicht falsch, liebe Gäste: Persönlich erachte ich jeden Aspekt als wichtig, je nach dem wo man die Prioritäten setzt. Und durch die gestiegene Zahl der Schiffe und ihrer Angebote ist es heute einfacher, genau das zu finden, was man will. Für Naturliebhaber, denen Komfort erst an zweiter Stelle auf der Prioritätenliste einer Arktisreise steht, finden auf kleinen 12- 50 Personen-Schiffen eher das Gesuchte als auf einem 200-Personen-Schiff. Auch für Fotografen, die viel Zeit mit Motiven verbringen wollen, treffen auf solchen kleinen Schiffen eher Gleichgesinnte, auch Nicht-Fotografen, die bereit sind, mehr Zeit an einem Punkt zu verbringen, weil die Situation einfach zu gut ist, um sie zu verlassen (vorausgesetzt, man nimmt nicht nachfolgenden Schiffen den Platz weg). Flexibilität ist zwar bei allen Expeditionsreisen gefragt, aber bei weniger Gästen ist nach eigener Erfahrung diese eher gegeben, da die Wahrscheinlichkeit, dass alle Gäste ähnlich ticken, grösser ist. Dann kommt noch dazu, dass bei kleinen Gruppen der familiäre Charakter sich schneller einstellt, als bei grösseren Schiffen. Man kennt sich schnell und die Bildung einer «Schicksalsgemeinschaft» geht schneller vonstatten (was aber auch mit der Fähigkeit der Guides zusammenhängt, das «Bonding» innerhalb der Gästegruppe zu formen). Auch die Anpassungsgeschwindigkeit auf eine Änderung der Situation ist bei kleinen Schiffen einfach höher, da weniger Personen betroffen sind. Das kann bei einer schnellen Rückkehr auf das Schiff bis zum frühen Aufstehen aufgrund eines besonderen Motivs sein.

Im COVID-Jahr 2020 konnten nur ein paar wenige kleine Expeditionsschiffe ihre Aktivitäten tatsächlich durchführen. Plötzlich ausgerufene Lockdowns und Reisebeschränkungen forderten aber schnelle Planänderungen, wie beispielsweise bei der MS «Cape Race», die einen schnellen Wechsel von Spitzbergen nach Schottland unternehmen musste, um die Reisen noch durchzuführen. Bild: mit freundlicher Genehmigung des mare-Verlag

Dieses Jahr wurde die Flexibilität der Expeditionsreiseanbieter, der Guides und auch der Gäste übermässig gefordert, dank COVID und der entsprechenden Massnahmen. Die Arktissaison wurde für die meisten Reedereien zur Nullnummer. Ein paar Anbieter versuchten das Beste aus der Situation zu machen und stellten neue und scheinbar solide Sicherheitsmassnahmen vor. Doch tatsächlich waren es fast nur kleine Expeditionsschiffe, die ihre Fahrten auch in einer mehr oder weniger gewohnten Art durchführen konnten, ohne negative Schlagzeilen erdulden zu müssen. Hier war meiner Meinung nach die Grösse der Gästezahl entscheidend. Denn erstens mussten weniger Gäste (teilweise nur 6 Gäste an Bord) an die Abfahrtsorte gebracht werden und entsprechend auch weniger Guides organisiert werden; Zweitens ist bei einer kleineren Zahl von Personen an Bord die Wahrscheinlichkeit eines Einschleppens des Virus kleiner (daher ja die Zahlenbeschränkung); Drittens sind die Umsetzungen und Kontrollen von Hygiene- und Sicherheitsvorschriften an Bord eines kleinen Schiffes leichter als bei einem grösseren Schiff. Auch plötzliche Wiedereinführungen von Reisebeschränkungen konnte teilweise noch flexibel ausgeglichen werden. Beispielsweise verlegte die MS «Cape Race» ihre Reisen von Spitzbergen nach Schottland und konnte so noch erfolgreiche Entdeckungsfahrten durchführen. Insgesamt bleibt es aber zu hoffen, dass mit dem kommenden 2021 die Situation wieder für alle Anbieter besser wird, egal wie gross die Schiffe sind, und sie ihre Gäste in den Zauber der arktischen Regionen entführen können. Denn darum geht es schliesslich allen.

Dr. Michael Wenger, PolarJournal

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