Dem Schicksal, als vergessener Held eben nicht in die Geschichte einzugehen, entgeht der Deutsche Carl Chun (1852–1914), Leiter der ersten deutschen Tiefsee-Expedition namens «Valdivia» anno 1898. Gleich zwei stark erweiterte Biografien befassen sich mit Chun und seiner Pioniertat: dem ersten Blick in die Tiefsee. Es könnte die Geburtsstunde des Horrorfilms sein, dieser 11. März 1899 irgendwo im Indischen Ozean. Was da auf dem Deck der «Valdivia» landet, geborgen aus 2500 Metern Tiefe, lässt alle an Bord staunen. Und schaudern: im Netz zappelt eine dunkle Kugel von Fisch, bewehrt mit rasiermesserscharfen Zähnen und Dornen auf der Haut, aus dem Kopf ragt eine Art Angel, die zum gefrässigen Schlund hin baumelt. So eine Kreatur, eine Ausgeburt der Finsternis des Abyssals, hatte die Welt noch nicht gesehen. Auch die Crew der «Valdivia» nicht, der ersten deutschen Tiefsee-Expedition, die im Sommer 1898 in Hamburg gestartet war.
Bis vor kurzem hatte man ja gemeinhin angenommen, dass ab einer Wassertiefe von spätestens 500 Metern kein Leben mehr möglich wäre. Dass nun die «Valdivia»-Expedition den ersten Tiefsee-Anglerfisch aus lichtloser Tiefe fischte, war eine Sensation. Um das Ausmass dieser Entdeckung zu verstehen, muss man sich in Erinnerung rufen, was man damals, zur vorletzten Jahrhundertwende, über die Tiefsee wusste: so gut wie gar nichts. Ab der Tiefe, die Fischnetze erreichen, war Ende im Gelände mit Wissen, da begann das Reich der Fantasie.
Die Welt im Trockenen war weitgehend vermessen und kartografiert, die Welt der Meere unter ihrer Oberfläche war ein grosser weisser Fleck, Terra incognita. Man vermutete da aber schon immer Schreckliches. Auf alten Karten lauern seit Jahrhunderten in allen Weltmeeren mächtige Ungeheuer: gigantische fiese Fische, blutrünstige Wale, Riesenkraken, Monsterhaie, geschuppte Flugsaurier, Ausgeburten von Fantasie und Höllenangst. Und nun liegt an Bord der «Valdivia» so ein Monster. Dass dieses nur einen Finger lang ist, schmälert die Sensation nicht. Der «Valdivia»-Zeichner Fritz Winter sinnierte beim Anblick des Fisches: «Man meint, unser Herrgott habe alle Dummheiten, die er gemacht, in der Tiefe versteckt.» Dass nun diese fremdartige «Dummheit» ans Tageslicht kam, verdankte die Welt von damals der Initiative von Carl Chun. Der engagierte und weitsichtige Biologe aus Höchst bei Frankfurt hatte schon früh die Wichtigkeit der Tiefsee erkannt. Er forderte, Deutschland müsse «beim Wettstreit mit anderen Kulturnationen um die Erforschung der Tiefsee» dabei sein, das sei «Ehrenpflicht». Beim Deutschen Reichstag stiess er auf offene Ohren, am 31. Januar 1898 bewilligte man komfortable 300’000 Mark. Und Kaiser Wilhelm II. war begeistert, er hatte sich schon immer für die Seefahrt interessiert und von einer Flotte geträumt, wie sie die Engländer hatten. So wurde die «Valdivia», ein 100 Meter langer und 11 Meter breiter Schraubendampfer mit 1400 PS, für das Abenteuer umgerüstet: mit Kühlräumen, Labors, Dunkelkammern, an Bord mächtige Dampfwinden, ein Ladebaum mit einer Tragkraft von 10 Tonnen, zwei Lotmaschinen, etliche Kabeltrommeln und Stahlkabel von zehn Kilometern (!) Länge. Es wurden eigens massive Grundschleppnetze, Planktonnetze aus Gaze und Schliessnetze sowie Tiefseereusen angefertigt; Siemens entwickelte ein elektrisches Thermometer, das dem Druck grosser Tiefen standhielt.
Um die erwartete Beute zu konservieren, waren 8000 Liter 96-prozentiger Alkohol, 500 Liter Formalin und unzählige Glasbehälter jeglicher Grösse im Schiffsbau geladen. Bestens ausgerüstet stach die «Valdivia» am 31. Juli 1898 in Hamburg in See mit 43 Mann an Bord, darunter ein gutes Dutzend Wissenschaftler. Man nahm Kurs auf die Färöer. Am 6. und 7. August nahm man die ersten Tiefseelotungen vor. Mit Grundnetzen auf 486 Metern Tiefe holte man allerlei Seeigel, Schlangensterne, Glasschwämme, Asselspinnen, Armfüssler ans Tageslicht. Chun notierte ins sein Fahrtbuch: «Die Stimmung ist allseits gehoben, hatten sich doch alle Einrichtungen trefflich bewährt und das Vertrauen auf einen glücklichen Verlauf der Expedition gestärkt.» Weil sturmartige Winde aufkamen und die Wetterprognosen schlecht waren, drehte die «Valdivia» am 7. August 1898 beim 62. Breitengrad, dem nördlichsten Punkt ihrer Reise, um.
Das Glück blieb den Abenteurern treu. Neun Monate, 60’000 Kilometer und 274 Vermessungsorte später legte die «Valdivia» am 1. Mai 1899 wieder in Hafen von Hamburg an, die Mannschaft und ihre Mitbringsel wurden frenetisch gefeiert. Was an unbekannten Arten aus bis zu 5000 Metern Tiefe geholt wurde, beschäftigte Zeichner und Biologen noch jahrzehntelang. Erst 1940 erschien der letzte der 24 dicken Bände der «Wissenschaftlichen Ergebnissse der Deutschen Tiefsee-Expedition». Carl Chun erlebte die Vollendung des Werkes nicht mehr, er war 1914 verstorben. Doch sein Erbe besteht fort in Form der heutigen Tiefsee-Expeditionen in den Polarregionen.