Die globale Plastikverschmutzung ist neben dem Klimawandel und dem Biodiversitätsverlust eine der großen planetaren Krisen, die wir schnellstmöglich in den Griff bekommen müssen. Plastik ist allgegenwärtig, auch in der Arktis. Das hat das 1. International Symposium on Plastics in the Arctic and the Sub-Arctic Region, das wegen der Covid-Pandemie knapp ein Jahr verspätet und nun online stattfand, nochmals umso mehr verdeutlicht. Plastik ist weit in die natürlichen Systeme in der Arktis vorgedrungen — Wissenschaftler finden Makro-, Mikro- und Nanoplastik in der Atmosphäre, an den Stränden, im Meereis, an der Wasseroberfläche, in der Wassersäule, im Meeresboden, in Seevögeln und Säugetieren. Sie beobachten die Entwicklung genau und suchen gemeinsam mit Verantwortlichen nach Lösungen. Vielfältige gute Ansätze wurden auf diesem Symposium dokumentiert und diskutiert, doch es wird ein langer Weg sein. Einen möglichen Lösungsbeitrag hat die Autorin dieses Artikels, Julia Hager, in ihrem Konferenzbeitrag vorgestellt, der als Video am Ende des Artikels angefügt ist.
Eigentlich hätten die Wissenschaftler, Minister, Entscheidungsträger, Stakeholder, Vertreter von Umweltgruppen und Privatwirtschaft und sogar Künstler bereits im April letzten Jahres in Island zum Austausch zusammen kommen sollen. Wegen der Pandemie wurde der Termin zunächst auf September 2020 verschoben und musste schließlich in diesem Jahr als reine Online-Konferenz abgehalten werden. Die Veranstalter, die Regierung von Island und das Nordic Council of Ministers, sorgten dennoch für einen reibungslosen und technisch einwandfreien Ablauf.
Und so präsentierten die mehr als 80 Konferenzteilnehmer vom 2. bis 9. März 2021 ihre Forschungsergebnisse und Lösungsstrategien in Form von Vorträgen, Postern oder eigens produzierten Videos und diskutierten offene Fragen in live übertragenen, virtuellen Diskussionsrunden.
Inger Andersen, geschäftsführende Direktorin des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP), sagte zum Start des Symposiums: «Wir zahlen den Preis für unsere Plastik-Wegwerfmentalität. Deshalb müssen wir uns über Regierungen, den privaten Sektor, die Zivilgesellschaft, Bürger und die Wissenschaft hinweg zusammenschließen, um von diesem nicht nachhaltigen Konsum und der Produktion wegzukommen und zu kreislauforientierten Strukturen überzugehen, die gut für die Menschen und gut für den Planeten sind.»
«Es ist allgegenwärtig.»
Dr. Melanie Bergmann, Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung
Die Menge an Plastik erstaunte selbst die Wissenschaftler
Bereits am ersten Tag der Konferenz wurde deutlich, wie groß das Ausmaß des menschengemachten Problems in der Arktis ist. Obwohl die Landflächen relativ dünn besiedelt sind und auch im Arktischen Ozean weniger Schiffsverkehr herrscht als weiter im Süden, ist die Plastikverschmutzung gravierend und ein ökologisch relevanter Faktor, auch wenn im Allgemeinen die Konzentrationen niedriger sind als in anderen Regionen der Erde.
«Es ist allgegenwärtig», brachte es Dr. Melanie Bergmann vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI) auf den Punkt. Das heißt jedoch nicht, dass es überall sichtbar ist. Die mit Netzen, Leinen, Auftriebskörpern, Boxen, Packbändern aus der Fischerei, Flaschen, Folien und zahllosen Fragmenten nicht mehr bestimmbarer Plastikteile überschwemmten Strände auf Spitzbergen, Franz-Josef-Land, Nowaja und Sewernaja Semlja und auf den Aleuten sind nur die Spitze des Eisbergs. Der größte Anteil sinkt auf den Meeresboden und verbleibt dort wohl für immer. Wie Bergmann berichtete, stieg die Anzahl der beobachteten Müllteile im AWI-Hausgarten-Observatorium vor Spitzbergen in 2500 Meter Tiefe zwischen 2004 und 2017 um das 7-fache auf etwa 6000 Teile pro Quadratkilometer, davon über die Hälfte Plastik (Parga Martínez et al. 2020, https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fmars.2020.00321/full).
Zunächst nicht mehr sichtbar sind die Müllteile, die beispielsweise von Meeressäugern und Seevögeln aufgenommen werden, die dies häufig nicht überleben wie Untersuchungen von Mageninhalten bestätigten. Fast gänzlich vor dem bloßen Auge verborgen sind die winzigen Mikro- und Nanoplastikpartikel. Kleiner als 5 Millimeter bzw. kleiner als 100 Mikrometer sind sie überallhin vorgedrungen und Wissenschaftler finden sie in der Atmosphäre, im Schnee, im Meereis, an der Wasseroberfläche, in der Wassersäule, im Meeresboden, in tierischem Plankton, in Muscheln, in Fischen, in Seevögeln.
Vor Spitzbergen befinden sich in der gesamten Wassersäule von der Wasseroberfläche bis zum Meeresboden im Mittel 95 Partikel pro Kubikmeter Wasser mit der höchsten Konzentration an der Oberfläche. Im Meeresboden fand man durchschnittlich 4730 Partikel pro Kilogramm Sediment (Tekman et al. 2020, https://pubs.acs.org/doi/10.1021/acs.est.9b06981?fig=agr1&ref=pdf). Diese große Differenz in den Konzentrationen bedeutet, dass der Meeresboden die Senke unseres Plastikmülls ist.
Woher kommt das Plastik in der Arktis — und wie wird es weiterverbreitet?
Als generelle Eintragswege von Plastik und Mikroplastik in die arktische Umwelt gelten die Fischerei, besiedelte Küstenbereiche, Meeresströmungen aus dem Nordatlantik und dem Nordpazifik, das Meereis und die Atmosphäre. Die genauen Quellen und Eintragswege zu identifizieren bleibt jedoch schwierig. Einige Forscher konnten sogenannte Punktquellen ausfindig machen, wie Dr. Dorte Herzke vom Norwegischen Institut für Luftforschung (NILU). Laut ihren Messungen ist Longyearbyen, der Hauptort Spitzbergens, für den Eintrag von 21 Milliarden Kunststofffasern und -partikeln in den Adventfjorden verantwortlich, da die Abwässer unbehandelt in den Fjord geleitet werden. Die identifizierten Fasern, die in der gesamten Arktis zum Großteil aus Polyester bestehen, stammen mit großer Sicherheit aus den Haushalten, wo sie in den Waschmaschinen der Einwohner aus deren (Kunstfaser-) Kleidung abgerieben werden. Longyearbyen ist da nur ein Beispiel — in kaum einer arktischen Siedlung gibt es eine Kläranlage.
Die Plastikteile, egal ob groß oder klein, ob in der Luft, im Wasser oder im Meereis, sind ständig in Bewegung und werden von einem Ort zum anderen transportiert, es sei denn, sie sind bereits am Meeresboden angekommen. Und selbst dort können sie noch mit Bodenströmungen weiter verfrachtet werden.
Dr. Jennifer Provencher vom kanadischen Umweltministerium berichtete jetzt, dass bestimmte Seevögel wie Eissturmvögel und Dickschnabellummen, die mehr Plastik aufnehmen als andere Arten, ebenfalls eine Rolle spielen im Transport von Plastikteilen mitsamt der anhaftenden Schadstoffe. Eine Studie, an der sie beteiligt war, zeigte, dass in einer Kolonie von Dickschnabellummen auf der Baffin Insel innerhalb eines Jahres bis zu 45,5 Millionen Plastikpartikel, hauptsächlich Fasern aus Kleidung, von den Vögeln durch Ausscheidungen an Land getragen werden, die dort wiederum gefährlich werden können für andere Lebewesen (Bourdages et al. 2021, https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0048969720363373).
Von der Quelle durchläuft also beispielsweise eine aus einer Siedlung stammende Mikrofaser verschiedene «Stationen»: Zunächst an der Wasseroberfläche treibend, wird sie mit Strömungen aufs offene Meer getragen und womöglich mit den Wellen in ein bis zwei Meter Tiefe verbracht, wo sie von einem Flohkrebs aufgenommen wird. Dieser wiederum wird zur Beute eines Fisches, der selbst zur Mahlzeit einer Dickschnabellumme wird. Und die Faser wandert mit. Fliegt die Dickschnabellumme zurück zur Kolonie verliert sie die unverdaulichen Reste der Mahlzeit als Guano mitsamt der Faser vielleicht in Strandnähe oder in der Kolonie und die Faser ist wieder freigesetzt und wird ihre «Reise» fortsetzen. Eine wirkliche «Endstation» wird es für Plastik wohl kaum geben.
Diese Skizze zeigt nur einen möglichen Weg, es gibt viel komplexere Prozesse, die oft auch tödlich für die Tiere enden, wenn z.B. zentimetergroße Partikel den Magendarmtrakt verstopfen oder verletzen.
Die Entwicklung im Blick behalten
Von Russland über Spitzbergen, Grönland und Kanada bis zur Beringsee gibt es Monitoring-Projekte, um die Entwicklung der Verschmutzung mit Plastik zu verfolgen. Manche Forschungsgruppen setzen dabei auf Remote Sensing, also Satellitendaten, Luftbilder oder Dronenaufnahmen, wie z.B. Marc Schnuwara von der BioConsult SH GmbH & Co. KG in Deutschland. Die wohl pragmatischste, günstigste und technisch einfachste Methode wendet Liz Pijogge an, Schadstoffforscherin bei der Regierung von Nunatsiavut, Kanada, in Zusammenarbeit mit Dr. Max Liboiron, Associate Professor an der Memorial University von Neufundland: Mikroplastikproben aus den Fjorden von Nunatsiavut nehmen sie mit selbstgebauten «Netzen» aus Babystrumpfhosen und Plastikbehältern — und es funktioniert. Durch die Labradorsee treibt so viel Mikroplastik vom Atlantik in arktische Gewässer, dass die Inuit besorgt sind um ihre Gesundheit, da ein großer Teil ihrer Nahrung aus dem Meer stammt. Ein Video über ihre Forschung ist hier zu sehen: https://www.youtube.com/watch?v=OLkDMVstuao
Weitere Monitoring-Methoden sind das Aufsammeln, Sortieren, Zählen und Wiegen von Plastikmüll an der Küste oder der Einsatz von Tauchrobotern, die die Situation am Meeresboden untersuchen. Wie auch immer die Projekte durchgeführt werden, sie sind essentiell für die Entwicklung von Lösungsstrategien.
Wege nach vorn
«Ways Forward» — diesen Titel trug der letzte Teil der Konferenz, in dem Lösungen vorgestellt wurden, wie dem Problem der Plastikverschmutzung in der Arktis effektiv begegnet werden kann. Diese reichen von Prävention in den Städten und Gemeinden, was die wichtigste Strategie ist, über das Herausfischen von Plastikmüll mit Hilfe der Fischerei und der Entwicklung echter biologisch abbaubarer Kunststoffe bis hin zur Einführung neuer Regelungen und den Umstieg auf kreislaufförmige Geschäftsmodelle bei den Herstellern von Fischereibedarf.
Darüberhinaus stellte Melissa Nacke, Umweltspezialistin bei der Association of Arctic Expedition Cruise Operators (AECO, Vereinigung der Expeditionskreuzfahrtunternehmen in der Arktis) das Clean Seas Project vor. In dessen Rahmen verpflichten sich die Unternehmen, den Plastikkonsum an Bord zu reduzieren, ihre Passagiere entsprechend zu informieren und Strandsäuberungsaktionen mit den Passagieren durchzuführen. Innerhalb von 20 Jahren konnten so im Rahmen der Cleanup Svalbard Kampagne mehr als 40 Tonnen Plastikmüll von den Stränden Spitzbergens entfernt werden.
All diese Strategien sind äußerst wertvoll und effizient und müssen in jedem Fall weiterverfolgt werden. Doch sie haben eines noch nicht ausreichend im Blick: den einzelnen Menschen, der täglich unzählige mehr oder weniger umweltfreundliche und nachhaltige Entscheidungen trifft. Im Interesse unserer eigenen Gesundheit und der des gesamten Planeten müssen unsere Entscheidungen noch wesentlich häufiger zugunsten der Umweltfreundlichkeit und Nachhaltigkeit ausfallen.
Hier setzt meine Idee an, die ich auf der Konferenz vorgestellt habe:
Gemeinsames Bildungsprojekt von PolarJournal und mountain2ocean
Reisende, die die Wunder der Arktis hautnah erleben, werden fast immer auch mit den Überresten des globalen Plastikkonsums konfrontiert. Wie oben beschrieben, helfen viele der Passagiere mit, Strände zu reinigen. Solche Aktionen tragen dazu bei, die Menschen zu sensibilisieren. Was jedoch fehlt, sind Informationen zur Herkunft und Verbreitung des Mülls, zu seinen Auswirkungen auf die Natur und auf uns Menschen und dazu, was jeder einzelne zur Lösung des Problems beitragen kann.
Auf einigen wenigen Reisen werden Vorträge zum Thema angeboten. Auch ich habe auf den meisten meiner neun Arktis-Reisen einen Vortrag zur Plastikverschmutzung gehalten mit sehr guter Resonanz. Meine Zuhörer waren teils schockiert angesichts der Fakten und bereit, selbst aktiv zu werden und ihren Plastikkonsum zu reduzieren.
Bisher ist das Thema Plastikverschmutzung jedoch noch kein fester Bestandteil der Vorträge an Bord. Und genau dies möchten wir ändern. In Zusammenarbeit mit der AECO und möglicherweise noch weiteren Partnern werden wir Vorträge erstellen, die auf die verschiedenen arktischen Regionen zugeschnitten sind und von jedem Mitglied des Guide-Teams gehalten werden können.
Darüberhinaus werden wir eine Online-Plattform erstellen mit den Vortragsinhalten, mit Detailinformationen zu Forschungsprojekten, mit Tipps zur Vorbereitung auf die Reise und wie der Plastikfußabdruck im Alltag verkleinert werden kann.
PolarJournal und mountain2ocean, die 2016 von mir gegründete Bildungsinitiative zur Bekämpfung der Plastikverschmutzung, haben dieses Projekt bereits gestartet und werden es in Zusammenarbeit mit der AECO und im Austausch mit Wissenschaftlern, arktischen Gemeinden und den Expeditionsreiseunternehmen bis 2022 umsetzen.
Erschreckende Forschungsergebnisse, ermutigende Lösungsansätze und Visionen, die Hoffnungen wecken
Zum ersten Mal fand ein Symposium dieser Art und Größenordnung statt und es offenbarte das wahre Ausmaß der Verschmutzung der Arktis mit Plastik. Es ist schlimmer, als es die Wissenschaftler vor Beginn ihrer Forschungsprojekte erwartet hätten. Es hat aber auch gezeigt, dass der Austausch über Forschungsergebnisse und Lösungsansätze in zukunftsweisende Strategien mündet, die zum Tragen kommen werden, wenn die Vernetzung aller, die dazu beitragen können und müssen, gelingt. Ein großer Schritt wäre die Einigung auf einen globalen Vertrag zur Vermeidung von Plastikverschmutzung, wie der Nordische Rat von den Vereinten Nationen fordert. Eine dauerhafte Lösung hat nur Aussicht auf Erfolg, wenn auch die Menschen einbezogen werden in das ebenso weltumspannende wie persönlich relevante Anliegen, indem man ihr Herz und ihren Verstand erreicht.
Julia Hager, PolarJournal
Zusammenfassung der einzelnen Konferenztage (auf Englisch): https://www.arcticplastics2020.is/index.php/en/
Die Konferenzinhalte werden voraussichtlich ab Ende März öffentlich zugänglich sein. Wir werden den Link bekanntgeben.