Die Arktis ist die sich am schnellsten erwärmende Region weltweit. Die Ursachen und die Auswirkungen dieses Klimawandels werden in breiten Kreisen teils heftig diskutiert. Doch für die Bewohner in der Arktis kommt neben solchen Diskussionen auch die Frage nach dem Umgang mit den Auswirkungen auf. Ob es schmelzender Permafrostboden, Wetterextreme oder veränderte Verhaltensweisen von Tieren sind: Sie spüren am eigenen Leib, wie die fortschreitende Erwärmung ihr Leben verändert. Line Nagell Ylvisåker, ehemalige Journalistin, Mutter und Einwohnerin in Longyearbyen auf Svalbard hat in einem Buch die erlebten Veränderungen niedergeschrieben. Gastautor Stefan Leimer beschreibt in dieser Rezension seinen persönlichen Eindruck zum Buch.
Klimawandel! Jeder Einzelne weiss grundsätzlich, um was es geht! Während die einen auf Flugreisen verzichten, erfreuen sich die anderen an den vermehrt auftretenden Hitzetagen. Aber wirklich direkt betroffen fühlen sich bislang nur die wenigsten.
Die zweifache Mutter Line Nagell Ylvisaker lebt mit ihrer Familie in Longyearbyen, dem Verwaltungszentrum der zu Norwegen gehöhrenden Inselgruppe Spitzbergen. Selbstverständlich weiss auch sie, was die Klimaerwärmung für die Welt bedeutet. Aber erst als in unmittelbarer Nähe eine Lawine die Nachbarshäuser unter sich begräbt und zwei Menschen sterben, beginnt Line, sich konkret mit der Klimaerwärmung und den Konsequenzen für ihre Heimat auseinanderzusetzen.
Die Kinderaufführung anlässlich des 10-jährigen Jubiläums des internationalen Saatgutlagers auf Spitzbergen wird für sie zum Wendepunkt. Während auf der Bühne die kleinen Darsteller fröhlich lachend tanzen, beginnt Line sich um die Zukunft der nächsten Generation zu sorgen. «Was zu Teufel passiert hier eigentlich?» Sie möchte verstehen, «wie die Naturvorgänge zusammenhängen, wie das Klima funktioniert, wie das Wetter auf der Insel funktioniert…» Noch am gleichen Abend beschliesst sie, sich intensiv mit diesen Fragen zu beschäftigen
Die Antworten hat sie in dem 2021 erschienen Buch «Meine Welt schmilzt – wie das Klima mein Dorf verwandelt» zusammengefasst (Hoffmann und Campe Verlag; 1. Auflage 2021 / aus dem Norwegischen von Anne von Canal).
Bild: Line Nagell Ylvisåker
Das Leben mit dem Wetter auf Spitzbergen war schon immer eine Herausforderung. Aber genau diese ungezähmte Natur, war es, was Line von Anfang an faszinierte. Doch in den letzten Jahren erschütterte eine Reihe von Umweltkatastrophen das geruhsame Leben in Longyearbyen. Die Menschen sind in ihren Häuser vor Umweltkatastrophen nicht mehr sicher. Friedhof und Kirche müssen durch einen Wall geschützt werden.
Spitzbergen ist unausweichlich vom Klimawandel betroffen. Während die UNO noch vor den Konsequenzen eines durchschnittlichen Temperaturanstieges von 2°C warnt, hat sich die Durchschnittstemperatur auf Spitzbergen seit 1961 um 5.6°C erhöht. Auf Spitzbergen ist der Temperaturanstieg drei Mal höher als in Oslo. Im Vergleich zur restlichen Welt sechs Mal höher!
Mit ihren Fragen wendet sich die junge Mutter an fachkundige Meteorologen und ausgewiesene Klimaexperten und begleitet sie bei ihren Forschungen auf Spitzbergen. Aber auch ein erfahrener Jäger, der seit vielen Jahren mit dem unwirtlichen Wetter auf Spitzbergen zu Recht kommen muss, kommt zu Wort. «Wenn es jemanden gibt, der von den Veränderungen in der Natur hier zu berichten weiss, dann er.»
Abwechslungsreich und auch für Laien gut verständlich beschreibt Line die verschiedenen Zusammenhänge. Wie weniger Schnee und Eis die Klimaerwärmung weiter fördern. Wie Veränderungen im Golfstrom sich auf das Klima entlang der norwegischen Küste auswirken werden. Oder wie noch mehr Treibhausgase freigesetzt werden, weil der Permafrost auftaut.
Aufgewühlt durch ihre Nachforschungen verkauft Line ihr Auto und fährt nun auch im Winter E-Bike. Paradoxerweise kommt der Strom für ihr neues Elektrofahrrad aus lokaler Kohlekraft. Auch ihren Vielfliegerstatus hat Line verloren. Aber konkrete Lösungsansätze, wie die Menschheit, das Problem Klimaerwärmung in den Griff bekommen können, kann sie selbstverständlich nicht bieten.
Mir hat das Buch «Meine Welt schmilzt – wie das Klima mein Dorf verwandelt» gut gefallen. Die knapp 200 Seiten lesen sich süffig. An einigen Stellen stolpert die Deutsche Übersetzung etwas, aber das tut dem positiven Gesamteindruck keinen Abbruch. Auch wenn ich schon manches zum Thema Klimawandel gelesen haben, einige der Zusammenhänge wurden mir erst jetzt bewusst. Die Autorin orientiert sich an konkreten Zahlen, verzichtet aber auf Klimadiagramme, Statistiken oder sonstige Tabellen. Dafür beschreibt sie anschaulich die direkten Auswirkungen der Erderwärmung auf das Leben der Menschen in Longyearbyen. Das ist es, was den Leser betroffen macht. So werden Lines Zukunftssorgen zu den Zukunftssorgen des verunsicherten Lesers.
Stefan Leimer
Produktinformation
Titel: | Meine Welt schmilzt |
Untertitel: | Wie das Klima mein Dorf verwandelt |
Autor: | Line Nagell Yvilsåker |
EAN: | 9783455011258 |
ISBN: | 978-3-455-01125-8 |
Format: | Hardcover |
Herausgeber: | Hoffmann und Campe |
Anzahl Seiten: | 192 |
Gewicht: | 290g |
Größe: | L21.1cm x B13.1cm x H2.5cm |
Jahr: | 2021 |
Sprache: | Deutsch, übersetzt aus dem Norwegischen durch Anne von Canal |