Der Frühling in Europa ist in diesem Jahr voller Extreme. Besonders die Kälteeinbrüche mit Schnee bis in tiefe Lagen noch mitten im April haben besonders der Landwirtschaft zugesetzt. Doch solche Bedingungen erleben wir nicht zum ersten Mal. Schon seit Jahren kommt es vermehrt zu solchen Wetterextremen. Verantwortlich dafür dürfte der Verlust des arktischen Meereises sein, sagt ein internationales Forschungsteam in einer eben veröffentlichten Studie.
Das Ergebnis der Studie, die in der renommierten Fachzeitschrift Nature Geoscience veröffentlich worden ist, hört sich eigentlich paradox an: Durch das wärmer gewordene Klima hat es in Europa im Frühjahr mehr geschneit. Doch was wie Wasser auf die Mühlen der Klimawandelskeptiker klingt, macht bei genauerer Betrachtung sehr viel Sinn. Denn die Forschungsgruppe unter der Leitung von Professor Jeffrey M. Welker von der Universität Oulu (Finnland) und University of Alaska Anchorage konnte zeigen, dass 2018 durch das verschwundene Meereis und die resultierende grössere offene Wasserfläche in der Barentssee mehr Wasserdampf evaporieren konnte. Dieser Wasserdampf fiel danach als Schnee in Mitteleuropa und lieferte die ungewöhnlichen Schneemengen, von den Medien zusammen mit dem Kälteeinbruch damals «The Beast from the East» genannt. Gemäss den Resultaten der Studie stammten rund 88 Prozent der Schneemenge aus der Barentsregion und es dürfte sich mit dem weiteren Verlust des dortigen Meereises weiter verstärken. Bis in 60 Jahren, so die Forschungsgruppe, wird die eisfreie Barentssee die Hauptverantwortung für die Winterniederschläge in Europa tragen.
Für ihre Ergebnisse nutzte die Forschungsgruppe den eindeutigen geochemischen Fingerabdruck von Schnee und Wasserdampf, der durch Isotope entsteht. Dazu wurden Proben aus dem finnischen Norden analysiert und mit meteorologischen und ozeanographischen Daten verglichen. So konnten sie die Quelle des Schneefalls bestimme und zeigen, dass der Grossteil aus der Barentssee stammte. Diese Region verzeichnet auch den grössten Verlust an arktischem Meereis seit Beginn der Satellitenaufzeichnungen. Gemäss den Berechnungen der Forscherinnen und Forscher gelangten 140 Gigatonnen Feuchtigkeit zwischen Februar und März 2018 in die Atmosphäre, weil kein Meereis über dem Ozean lag. Eine spezifische Wetterlage mit hohen Temperaturen über der Arktis sorgte für den Wasserdampf und eine Abschwächung des arktischen Polarwirbels brachte diese Feuchtigkeit zusammen mit der Kälte als Schnee nach Nord- und Mitteleuropa. Nach Angaben der Studie waren es knapp 160 Gigatonnen Schnee. Ähnliche Bedingungen herrschten auch dieses Jahr und brachten das entsprechende Schnee- und Kältechaos bis weit nach Mitteleuropa. Dass der Verlust des arktischen Meereises für mehr Wasserdampf in der Atmosphäre sorgt, ist nicht neu. Doch diese Studie konnte zum ersten Mal eine direkte Verbindung zwischen diesen Feuchtigkeitsmassen und den Schneefällen in Europa aufzeigen und sie auch mengenmässig und zeitlich bestimmen.
«Die Natur ist komplex und was in der Arktis geschieht, bleibt nicht in der Arktis.»
Dr. Hanna Bailex, Hauptautorin der Studie, Univeristät Oulu
Das Meereis, das normalerweise den arktischen Ozean bedeckt, ist in den letzten Jahrzehnten stark zurückgegangen. In der Barentsregion sind es rund 56 Prozent seit Beginn der Satellitenmessungen. Besonders das mehrjährige Eis ist im gesamten arktischen Ozean kaum mehr zu finden. Weiter sind, nach Angaben von Experten, seit 1979 95 Prozent des verlorenen Meereises im März dieser Region zuzuschreiben. Dadurch erwärmt sich der Arktische Ozean immer stärker und das Wasser transportiert diese Wärme auch unter das Meereis in anderen Regionen und als Tiefenströmung zurück auf die Südhalbkugel. «Was wir sehen, ist, dass das Meereis effektiv wie ein Deckel auf dem Ozean liegt», erklärt Dr. Hanna Bailey von der Universität Oulu und Hauptautorin der Studie. «Und mit seinem Langzeit-Rückgang überall in der Arktis, finden wir immer grössere Mengen and Feuchtigkeit, die im Winter in die Atmosphäre gelangen, was direkt unser Wetter weiter südlich beeinflusst und zu extrem heftigen Schneefällen führt. Das scheint widersprüchlich. Doch die Natur ist komplex und was in der Arktis geschieht, bleibt nicht in der Arktis.»
Dieser Meinung ist auch Forschungsleiter Professor Jeffrey Welker: «Diese Arbeit zeigt und verfolgt, wie sich Meereisverlust auf den Wasserkreislauf auswirkt, mit dramatischen Folgen für Landschaften und Gesellschaften in den mittleren Breiten.» Und diese Folgen dürften in den nächsten Jahrzehnten noch weiter zunehmen. Denn das Team kommt zum Schluss, dass durch den weiteren Rückgang des Meereises sich im Winter/Frühjahr immer mehr Wasserdampf in der Atmosphäre sammeln wird und, gemeinsam mit einer häufigeren Abschwächung des Polarvortex über der Arktis, für mehr Niederschläge in Mitteleuropa sorgen wird, doch nur im hohen Norden als Schnee, da hier die Temperaturen weiterhin genügend tief liegen. Für die Einwohner Mitteleuropas hingegen könnte dies mehr Regen im Winter bedeuten.
Dr. Michael Wenger, PolarJournal