Die Arktis ist nicht nur ein 14 Millionen Quadratkilometer grosser Ozean. Auch die umgebenden Landmassen gehören dazu. Und deren Bewohner sind von den Veränderungen des Klimawandels ebenso betroffen, wie ihre ozeanischen Mitbewohner. In einem umfangreichen Bericht fassten dutzende von Experten die Forschungsarbeiten von rund 200 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zusammen und veröffentlichten die Situation der Tiere und Pflanzen in den arktischen Landregion.
Die Veränderungen, die der Klimawandel in der Arktis mit sich bringt, sind gross und vor allem schnell. Zu schnell für zahlreiche Tiere und Pflanzen im hohen Norden. Anpassungen an die extremen Bedingungen der Arktis, die sich über lange Zeit entwickelt haben, bringen den Organismen heute Nachteile gegenüber dem neuen Klimazustand und einwandernden Konkurrenten. Davon betroffen sind sowohl Tiere wie auch Pflanzen. Zu diesem Schluss kommt der neue, sehr umfassende Bericht des CAFF (Conservation of Arctic Fauna and Flora), einer Arbeitsgruppe des Arktisrates. Der Bericht, der kurz vor dem Arktisratstreffen veröffentlicht worden war, ist die gegenwärtige kompletteste Studie aus der gesamten arktischen Region, welche die Auswirkungen auf die Artenvielfalt an Land untersucht hat. Der Bericht ist Teil des Zirkumpolaren Artenvielfalt Beobachtungsprogrammes (CBMP).
Der Bericht führt detailliert auf, wie in den unterschiedlichen Regionen Tiere und Pflanzen auf die Klimaveränderungen reagieren. Zusammenfassend lässt sich aber sagen, dass die verschiedenen Arten und Gruppen sehr unterschiedlich auf die Klimaveränderungen reagieren. Ein konsistentes Muster lasse sich nicht erkennen, schreiben die Experten in ihrem Bericht. Veränderte Wetterbedingungen und ein früherer Frühlingsstart führen zu schlechten Brutbedingungen. Ausserdem sei es wahrscheinlich, dass viele der Vogelarten, die als Zugvögel nur saisonal in der Arktis weilen, auf ihrem Weg und in ihren Überwinterungsgebieten zusätzlich unter Druck geraten. Besonders Vogelarten, die aus dem ostasiatischen Raum in die Arktis ziehen, zeigten einen starken Populationsrückgang. Dagegen seien Vogelarten, die aus dem afrikanisch-eurasischen Raum in die Arktis ziehen, stabil. Trotzdem gehen insgesamt mehr als ein Fünftel aller Vogelpopulationen in der Arktis mittlerweile zurück.
Bei den Säugetieren sieht die Lage ganz unterschiedlich aus. Moschusochsen und Polarfüchse zeigen gemäss den Experten positive Populationsentwicklungen, während die Zahlen für Rentiere auf dem Festland immer stärker zurückgehen. Dies aufgrund von mehr Kälteeinbrüchen im Frühjahr, die zu Vereisung der Nahrungsgründe führen. Und für kleine Nagetiere wie Lemminge sind keine Trends ersichtlich, sondern es herrschen regional unterschiedliche Situationen. Die Experten kommen zum Schluss, dass für die Landsäugetiere nur wenige konsistente Daten tatsächlich zur Verfügung stehen. Unterschiede in den Beobachtungsprogrammen, den Datenerhebungen und der Zusammenarbeit auf internationaler Ebene erschweren einen Vergleich und eine gesicherte Aussage, wie die Populationen sich in Zukunft verhalten werden.
Die Vegetation zeigt auch eine Tendenz hin zu einer grüneren Arktis. Besonders in den südlichen Arktisregionen steige die Verbuschung der eigentlich grasreichen Tundra. Darunter leiden nach Angaben der Experten vor allem Moose und Flechten. Seit 2001, so die Fachleute, habe sich die pflanzliche Produktivität der Arktis signifikant nach oben bewegt. Dies hat aber negative Auswirkungen auf den Permafrostboden, da sich im Winter eine Schneedecke wie eine Isolationsschicht über dem Boden ausbreitet und das Gefrieren verhindert. Dadurch tauen im Frühjahr dann immer grössere Teile auf, die Methan und Kohlendioxid freisetzen, weitere Treibhausgase. Ausserdem verzeichnen die Forscher eine verstärkte Einwanderung von neuen Pflanzenarten. Diese seien in den meisten Fällen aber noch nicht als «invasiv» zu betrachten. Doch auch hier fordert man verstärkte Anstrengungen im Bereich der Langzeitstudien.
Die wohl wichtigste Erkenntnis, die im Bericht zur Lage der arktischen Vielfalt an Land steht, dürfte aber der Ruf nach mehr und verstärkten Beobachtungsprogrammen sein. Denn die Resultate der bisherigen Bemühungen zeigen zwar Trends, lassen aber nur wenige gesicherte Aussagen zu. Bessere Koordination, Standardisierungen der Methoden zur Datenerhebung und vor allem die stärkere Einbindung der lokalen Bevölkerung und mehr «Citizen Science»-Projekte, zur grösseren geographischen Abdeckung werden von den Experten gefordert. Besonders die Zusammenarbeit mit lokalen Einwohnern muss noch verstärkt werden. Dies ist ein Anliegen, welches auch von den Inuitverbänden im Arktisrat gefordert wird. Denn schliesslich sind es sie, die an vorderster Front stehen und die Auswirkungen der klimatischen Veränderungen seit Jahrzehnten spüren.
Dr, Michael Wenger, PolarJournal
Link zur Hauptseite des Berichtes: State of the Arctic Terrestrial Biodiversity