CIRCUS ANTARCTICA – TEIL 4 | Polarjournal

Die Zukunft hat bereits begonnen

Rückblickend lassen sich die Entwicklungen des antarktischen Expeditionsgeschehens der letzten 30 Jahre erkennen. Manche sahen dem Motto „by fair means“ – oder eigentlich „by purest means“ – folgend den Verzicht auf die Nutzung des Windes als Antriebskraft und somit das Schlittenziehen aus eigener Kraft als die puristischste Form des Polarreisens an, so als ob das Snowkiten gar eine Reiseform „by unfair means“ wäre.

Heute gilt das Snowkiten nicht mehr als eine „unterstützte“ Form und physische Erleichterung des Eisreisens sondern als eine eigenständige Disziplin (Foto. Christoph Höbenreich, 1997).

Ein Blick in die Geschichte erklärt diese wertende – und heute antiquiert wirkende – Denkweise. Bereits während des „Heroic Age of Antarctic Exploration“ durchdrang die britischen Expeditionen eine Abneigung gegen den von Norwegern praktizierten Einsatz von Schlittenhunden. Das „Manhauling“ galt als Ideal britischen Sportsgeistes. Sogar der 1863–1888 amtierende Präsident der Royal Geographical Society Clement Markham war ein glühender Anhänger des Glaubens an die moralische Überlegenheit der menschlichen Muskel- und Willenskraft. Für die großen norwegischen Entdecker hingegen war das Ziehen eines Schlittens aus eigener Kraft nichts anderes als vergebliche Arbeit, die um jeden Preis vermieden werden sollte. Manche Verfechter bemühen einen Vergleich mit Ruder- und Segelbooten. Aber wer würde schon ein Segelboot ernsthaft als eine Form des Reisens auf See „mit Hilfe“ („aided“, „assisted“) und ein Ruderboot als eine „ohne Hilfe“ („unaided“, „unassisted“) bezeichnen? Diese frühere Betonung polarer Reisetechniken hinsichtlich der Form der Energie, die zur Fortbewegung genützt oder eben nicht genützt wird, ist heute nicht mehr notwendig, auch wenn manche – vor allem die, die nicht snowkiten können oder wollen – noch immer bemüht sind, sie hervorzuheben. Die frühen fallschirmartigen Segel, mit denen sich Polarreisende samt Pulkaschlitten im Schlepptau behelfsmäßig über das Eis ziehen lassen konnten und die als elegante Innovation des autarken Polarreisens angesehen wurden, entwickelten sich zu lenkbaren und immer leistungsfähigeren Powerkites. So entstand eine völlig neue und im Vergleich zum zermürbenden Schlittenziehen aus eigener Kraft nicht minder anstrengende, technisch anspruchsvolle, aber auch verletzungsanfällige Disziplin des Eisreisens.

Bei Polarreisen wird die Nutzung des Windes daher längst nicht mehr bloß als eine physische Erleichterung bei der Fortbewegung angesehen. Das Snowkiten hat sich vielmehr als eigenständige Disziplin des Polarreisens etabliert, die gänzlich neue Spielregeln erfordert und schier unglaubliche Höchstleistungen ermöglicht. So stellten Eric McNair-Landry und Sebastian Copeland im Juni 2010 auf ihrer Grönland-Längsdurchquerung den 24 Stunden Streckenrekord von 595 Kilometern und Frédéric Dion (CAN) 2014/15 bei seiner 4.171 Kilometer langen Solo-Antarktisdurchquerung in 24 Stunden und 53 Minuten mit 603 Kilometern einen Rekord für die weiteste, jemals in einer einzigen Reiseetappe zurückgelegte Distanz auf. Wer denkt, das sei einfach ein genussreiches Dahinschweben, der irrt.

Das Schlittenziehen aus eigener Kraft ist die klassische Form des Polarreisens, das je nach Gelände und Schneequalität mehr oder weniger mühsam oder meditativ ist. Der Tiroler Paul Koller gleitet mit Ski und Polarschlitten durch die herrliche Bergwelt Königin-Maud-Lands. (Foto: Christoph Höbenreich 2009)

Es wird aber nicht nur der olympischen Devise immer „schneller, höher, weiter“ gefrönt. Abseits dieser sich aufschaukelnden Zahlenspiele werden auch neue Expeditionserfolge mit Spannung erwartet. Offen ist beispielsweise noch die erste volle Ski-Durchquerung des Kontinents ohne jegliches Windsegel von einer bis zur anderen äußeren Schelfeiskante, mit oder ohne Depots, als Team oder solo. Dieses extrem schwierige Unterfangen könnte derzeit vielleicht noch als eine der tatsächlich „letzten großen Herausforderungen“ für künftige Polarathleten in der Antarktis gelten. Es gibt übrigens bereits ambitionierte Pläne, diese schwierige Aufgabe umzusetzen. Man darf gespannt sein.

Auch immer subtilere Reisemethoden beanspruchen Sponsoren und Medien. Mittlerweile gibt es etwa Segelschlitten („Wind-Crafts“), ganze Schlittenplattformen, die samt fix installierten Zelten von Lenkdrachen gezogen werden, und auf denen die Reisenden sitzend über das Eis segeln. Der Schlittenbautradition der grönländischen Inuit folgend, ließen sich Ramón LarramendiIgnacio Oficialdegui und Juan Manuel Viu 2005/06 erstmals mit einem solchen vom Wind gezogenen Vehikel in 62 Tagen auf einer 4.486 Kilometer langen Schleife durch den weißen Kontinent ziehen. Ohne dabei zu Fuß zu gehen oder Ski zu laufen erreichten die Spanier erstmals mit einem Windfahrzeug die beiden Pole der Unzugänglichkeit gemäß Berechnung des British Antarctic Survey sowie die Vostok-Station.

2018/19 segelten Ramón Larramendi und Ignacio Oficialdegui mit Manuel Olivera und Hilo Moreno auf ihrem Segelschlitten in einer 52-tägigen, 2.538 Kilometer langen Rundreise zur 3.810 Meter hohen Eiskuppe des Dome Fuji, dem zweithöchsten Scheitelpunkt des antarktischen Eisschildes in der Ostantarktis, wo sich eine japanische Forschungsstation befindet. Wäre Amundsen und Scott das etwa spanisch vorgekommen?

Nur die Kräfte der Natur nützend und auf ihren Segelschlitten sitzend reisen moderne Polarvagabunden mit Sack und Pack relativ bequem Tausende Kilometer über das Eis. (Foto: Ramón Larramendi 2018)

Nur auf Polarlaufschuhen unterwegs war 2011/12 der Ultra-Marathonläufer Pat Farmer. Der Australier lief auf seinem „Greatest Run on Earth“ 21.000 Kilometer um die halbe Erde und durch alle Klimazonen: Vom Nordpol über das Eismeer nach Nordamerika, weiter bis ganz an die Spitze Südamerikas und von der US-Polarbasis am Union Glacier 1.157 Kilometer in nur 18 Tagen bis zum Südpol. Mit seiner aufsehenerregenden Aktion sammelte er Spendengelder für das Internationale Rote Kreuz. In der Antarktis wurde er von einem 6×6-Fahrzeug begleitet und legte im Schnitt 64 Kilometer am Tag auf Schnee und Eis zurück.

Auf seinem „Greatest Run on Earth“ lief der Ultra-Marathonläufer Pat Farmer (AUS) 2011/12 von Pol zu Pol, 21.000 Kilometer vom Nordpol durch beide Amerikas bis zum Südpol. Dabei sammelte er Spendengelder für das Internationale Rote Kreuz. (Foto: Eric Philips 2011)

Wer nicht laufen oder gleiten will, rollt und fährt neuerdings mit Fahrrad oder Dreirad. So pedalierte Maria Leijerstam im Dezember 2013 als erster Mensch mit ihrem Tricycle vom inneren Kontinentalrand des Ross-Schelfeises in 10 Tagen 14 Stunden und 56 Minuten 638 Kilometer weit bis zum Südpol. Die Britin nützte dabei nicht nur die eingerichtete Eispiste McMurdo-Südpol, sondern wurde auch von einem Fahrzeug unterstützt.

Der Australier Keith Tuffley setzt bei der ersten Südpol-Expedition über den unbegangenen Reedy-Gletscher 2016 nicht nur Ski, sondern zur Hälfte der Strecke auch ein Fatbike ein, um seinen Materialschlitten zu ziehen. (Foto: Eric Philips 2016)
Die Britin Maria Leijerstam pedaliert 2013 in knapp elf Tagen als erster Mensch zum Südpol: 638 Kilometer vom inneren Rand des Ross-Schelfeis am Fuße des Leverett Gletschers auf der zur Versorgung der US Amundsen-Scott South Pole Station präparierten Eispiste South Pole Traverse. (Foto: Archiv Maria Leijerstam)

Auch für Bergsteiger hat sich die Erforschung der Antarktis verändert und die Tür zu einem neuen Zeitalter alpiner Entdeckungsreisen geöffnet, was der Weltklassekletterer Leo Holding (UK), Mark Sedon (NZL) und Jean Burgun (FRA) 2017/18 eindrucksvoll demonstrierten. Ihre spektakuläre Expedition nützte zuerst Fluglogistik bis zum Ausgangspunkt im Inneren der Antarktis, von dem aus sie in einer Langstreckenreise den 2.020 Meter hohen Spectre in den entlegenen und nur schwer erreichbaren Transantarctic-Mountains bestiegen. Mit fixierbaren Skitourenschuhen, alpinen Rennski und Hochleistungs-Snowkites kehrten sie dann wieder hurtig zum Union Glacier zurück, wobei sie kurz auch die Südpolpiste benutzten. Für mich verkörpert dieser Stil die Idealform einer polaren Abenteuerexpedition im 21. Jahrhundert: Mit leichtem Gepäck, Ski, Schlitten und Zelt völlig autark in der Abgeschiedenheit der inneren Antarktis unterwegs sein, um unberührte, bestenfalls sogar noch namenlose Berge zu erkunden und zu besteigen.

Jean Burgun (F) düst mit einem Hochleistungspowerkite und schwerem Polarschlitten im Schlepptau während der Spectre-Expedition 2017/18 in die abgelegenen Transantarctic-Mountains. (Foto: Mark Sedon 2017)
 

Durch Kreativität und technologische Weiterentwicklung entstehen immer neue Sportgeräte. Sie bringen neue Disziplinen und neue Reisemethoden in die Antarktis. Die verschiedenen Spielformen haben wenig miteinander zu tun, außer dass sie auf dem gleichen Spielplatz gespielt werden. Moderne Fahrzeugtechnik und Fluglogistik ermöglichen auch zunehmend die touristische Nutzung der Antarktis bis zum Südpol. So werden „Ski-Last-Degree-Expeditionen“ durchgeführt, also auf die letzten ein oder zwei Breitengrade (1° = 60 nautische Meilen = 111 Kilometer Gehdistanz) reduzierte Skitouren bis zum Pol, Marathons oder sonstige Extremveranstaltungen am südlichen Ende der Welt. 2020 wurde sogar ein erster Ironman in der Antarktis durchgeführt – wenn auch nur durch einen einzigen Athleten.

Die Antarktis wird immer mehr auch als Bühne für Extremsportevents benützt. Ein Ende der Entwicklung ist nicht abzusehen. Man darf gespannt sein, was der nächsten Generation der Polarreisenden einfällt. In den Gebirgen verhindern zum Glück (noch) riesige Spaltenzonen, dass hier Fahrzeuge herumfahren. Es bedarf dennoch besonnener Köpfe, Fahrzeuge in der Antarktis behutsam einzusetzen. Sonst läuft der moderne Polartourismus letztlich Gefahr, genau das zu zerstören, was die Abenteurer suchen: Den Wildnischarakter dieser einzigartigen, abgeschiedenen Welt.

Aber egal, ob Solo-Skidurchquerungen, Langstrecken-Kiteexpeditionen, Segelschlittenrunden, Wettrennen auf verkürzten Rennstrecken oder pionierhafte Entdeckungsreisen in polares Neuland: Antarktika bietet genug Spielraum für alle und wird seine Anziehungskraft und die Faszination der Stille, der schier endlosen Weite und der Abgeschiedenheit am Ende der Welt, die schon Abenteurer vom Schlage eines Shackleton, Amundsen oder Scott in ihren Bann gezogen hat, auch für die heutigen Abenteurerreisenden mit all ihren unterschiedlichen Zielen, Motiven und Ansprüchen sicher nicht so schnell verlieren. Im Gegenteil! Schön wäre dabei bloß, wenn all die verschiedenen Reisen, die sportlichen Hochleistungen und die innovativen Expeditionen, die noch dem Entdeckergeist der Pioniere folgen, dann auch richtig dargestellt und wahrgenommen werden könnten.  

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