Die Twittermeldungen berichteten ständig von Hitzewellen im hohen Norden und anderen extremen Wettersituationen. Ich arbeitete an einem Artikel über Geoengineering. Könnte das die Arktis und den Rest des Planeten wirklich wieder kühlen? Darf die Menschheit überhaupt sich derart in die Natur einmischen? Und lenkt das erhöhte Medieninteresse an solchen Themen nicht von der Notwendigkeit ab, unseren Ausstoß an Treibhausgasen sofort und drastisch zu reduzieren?
Dann störte eine Schlagzeile meinen Gedankengang: „Das Schlimmste kommt erst noch“, hieß es bei Tagesschau.de: „Mehr Hitzewellen, mehr Hunger, Überschwemmungen, Artensterben – Experten des Weltklimarats zeichnen ein düsteres Bild für den Fall, dass es nicht gelingt, die Erderwärmung einzudämmen: Sie sehen die Menschheit in Gefahr.“
Die Nachrichtenagentur AFP war an den Entwurf zu einem umfassenden Bericht des Weltklimarats herangekommen, der eigentlich erst Februar 2022 veröffentlicht werden soll.
Schlimmer als gedacht – und es kommt noch schlimmer
Auch wenn es den Menschen gelinge, ihren Treibhausgasausstoß zu reduzieren, werde der Klimawandel das Leben auf der Erde in den kommenden Jahrzehnten vollkommen verändern, heisst es im Bericht, der von leitenden Klimawissenschaftlern rund um den Globus verfasst wurde.
Schon in den nächsten 30 Jahren werde die Welt Artensterben, die Ausbreitung von Krankheiten, unerträgliche Hitze, Überflutungen, Hunger und weitere katastrophale Auswirkungen des Klimawandels erleben, warnen die Autoren.
„Das Leben auf der Erde kann sich von einem drastischen Klimaumschwung erholen, indem es neue Arten hervorbringt und neue Ökosysteme schafft“, heißt es in der 137-seitigen technischen Zusammenfassung des Berichtsentwurfs. „Menschen können das nicht.“
Gefährliche Kipppunkte, ab denen eine massive Beschleunigung des Klimawandels nicht mehr aufzuhalten ist, seien näher als vorher vermutet. Die Auswirkungen unseres langjährigen Treibhausgasaustoßes seien kurzfristig nicht zu vermeiden.
Der Bericht ist laut AFP der „umfassendste je zusammengetragene Katalog der fundamentalen Veränderungen der Welt durch den Klimawandel“. Er lese sich wie eine Anklage gegen die Menschheit und ihren Umgang mit dem Planeten.
Bei dem Berichtsentwurf handelt es sich um die vorläufigen Ergebnisse der IPCC-Arbeitsgruppe II, die die Folgen der Erderwärmung beleuchtet. Daran haben mehr als 700 Experten mitgewirkt. Es könnte vor der endgültigen Veröffentlichung kleine Veränderungen geben. Die von AFP gesehene Version ist aber schon weitgehend redigiert worden.
Die Agentur fasst die Ergebnisse in einigen Hauptpunkten zusammen:
Erstens hat sich die Erde seit dem vorindustriellen Zeitalter bereits um 1,1 Grad erwärmt. Das Pariser Abkommen soll die Erwärmung auf deutlich unter zwei Grad, möglichst 1,5 Grad beschränken. Bereits für eine Erwärmung um zwei Grad zeichnet der IPCC-Berichtsentwurf schwerwiegende globale Folgen für Mensch und Natur. Derzeit steuert die Erde aber sogar auf eine Erwärmung um rund drei Grad zu.
Viele Organismen werden sich nicht mehr rechtzeitig an die Veränderungen anpassen können. Für indigene Gruppen in der Arktis könnte der Klimawandel die Umwelt, auf der ihre Lebensweisen, Kultur und Geschichte basieren, buchstäblich wegschmelzen.
Kipppunkte
Zweitens stellt der Berichtsentwurf fest, dass bisherige Anpassungsmaßnahmen für zukünftige Klimarisiken nicht ausreichen werden. Die Experten gehen davon aus, dass eine Erderwärmung um zwei Grad 420 Millionen Menschen zusätzlich dem Risiko von Hitzewellen aussetzt. Außerdem wird bis zum Jahr 2050 ein Hungerrisiko für acht bis 80 Millionen Menschen zusätzlich erwartet. Eine Zunahme an Stürmen und Überflutungen werde im gleichen Zeitraum hunderte Millionen Menschen bedrohen. Viele Auswirkungen werden wahrscheinlich viel schneller zu spüren sein, als von den meisten Menschen angenommen.
Drittens betonen die Wissenschaftler die Gefahren der viel diskutierten Kipppunkte, darunter das Schmelzen des Eisschildes in Grönland und der Westantarktis sowie das Abtauen des arktischen Permafrosts. Die Experten sind sich nicht einig über die wahrscheinlichen Zeitpunkte und Ereignisse, die unterschiedliche Kipppunkte auslösen könnten. Neuere Studien deuten aber darauf hin, dass selbst eine Erwärmung von zwei Grad Celsius ausreichen könnte, um beispielsweise irreversible Schmelzprozesse auszulösen.
„Kein Kommentar“
Zwischenzeitlich erreichte mich eine Mitteilung des Weltklimarats. Die Organisation werde keinen Kommentar zu den Inhalten von Berichtentwürfen abgeben, solange die Arbeit nicht abgeschlossen sei. Der Entwurf, um den es geht, wurde zwischen dem 4. Dezember 2020 und dem 29. Januar 2021 an Regierungen und Experten verteilt und hätte vorerst vertraulich bleiben müssen.
Die renommierte Klimawissenschaftlerin Kate Hayhoe stellte auf Twitter klar, die im Bericht enthaltenen Informationen seien keineswegs neu, sondern eine Synthese bisheriger Forschungsergebnisse: Dürren, Starkregen, Extremhitze, Waldbrände. Allerdings habe man sie noch nie in eine solche überwältigende Liste zusammengebracht.
Ihrer Meinung nach sei die Menschheit dabei, ein Experiment mit unserem Heimatplaneten zu machen. So viel Kohlendioxid sei noch nie so schnell in die Atmosphäre gelangt.
Wir können noch etwas tun
Die Arbeitsprozesse des Weltklimarats laufen langsam. Die Natur wartet nicht auf Veröffentlichungstermine. Der Entwurf ist inoffiziell an die Öffentlichkeit gelangt. Wie Hayhoe erklärt, sind die darin enthaltenen Informationen nicht neu. Dadurch dass der Bericht an die Presseagentur gelangt ist, erreichen die wissenschaftlichen Ergebnisse der führenden Klimawissenschaftler eine breitere Öffentlichkeit noch vor der entscheidenden COP26 Klimakonferenz des UN-Klimasekretariats im schottischen Glasgow in November.
Alles, was zu schnellerem Handeln führt im Kampf, um die Emissionen umgehend drastisch zu reduzieren, hat seine Rechtfertigung. Ich vermute, dass es viele gibt, die diese Informationen lieber jetzt als später in der Öffentlichkeit sehen. Und auch wenn die Lektüre des Berichts keine leichte und erst recht keine erfreuliche Lektüre sein mag – die Wissenschaftler betonen, dass es noch in unseren Händen liegt, die Worst-Case-Szenarien zu verhindern und effektive Vorkehrungen zu treffen. Wir können – und müssen – aufhören, die Treibhausgase auszustossen, die unseren Planeten aufheizen.
„Wir müssen unsere Lebensweise und unseren Konsum neu definieren,“ heißt es in dem Entwurf.
Zwischen Rhetorik und Handeln
Leichter gesagt als getan, zugegeben. Es klafft noch eine riesige Lücke zwischen der Rhetorik und der Praxis, wenn es darum geht, Klimaschutzmaßnahmen umzusetzen. Hier in Deutschland, zum Beispiel, hat die regierende Koalition aus CDU/CSU und SPD nach einem historischen Urteil des Bundesverfassungsgerichts ihr Klimaschutzgesetz überarbeitet.
Der CO2-Ausstoß soll sich bereits bis 2030 um 65 Prozent im Vergleich mit 1990 reduzieren. Das Land soll bis 2045 die Klimaneutralität erreichen. Kritiker merken aber an, dass es noch keinen konkreten Plan gibt, um die vorgegebenen Ziele zu erreichen. So schreibt beispielsweise Klimakorrespondent Wolfgang Wiedlich im Generalanzeiger, dafür bräuchte es „vier Mal mehr Solarpanels, drei Mal mehr landgebundene Windanlagen und zwölf Mal so viele im Meer“. „Wunsch und Wirklichkeit klaffen weit auseinander“, kommentiert er.
Im Vorfeld der Bundestagswahlen im September versuchen die Regierungsparteien, ihr grünes Image aufzupolieren und auf den Klimazug aufzuspringen. Allerdings waren das genau die Politiker, die die Energiewende derart ausgebremst haben, dass Nichtregierungsorganisationen und junge Aktivisten die Verschärfung des Klimaschutzgesetzes vor Gericht erzwingen mussten.
Die Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock nahm den durchgesickerten Bericht des Weltklimarats als Beleg für die Lücke zwischen Politik und Praxis.
„Ein Klimaschutzpaket, das Zahlen schärft, aber von realen Schritten kaum was wissen will, ist kontraproduktiv. Im Prinzip dafür, aber im Konkreten dagegen – das schützt weder das Klima, noch sichert es den Industriestandort Deutschland“, kritisierte sie die Bundesregierung. „Wir brauchen endlich ein wirksames Klimaschutzsofortprogramm mit klaren Vorgaben, damit Windräder, Stromtrassen und insgesamt die Infrastruktur für Klimaneutralität jetzt gebaut werden,“ sagte Baerbock im Interview mit der Rheinische Post vom 24. Juni.Klimaschutz sei „die Grundlage für Wohlstand und Freiheit, nicht etwa in ferner Zukunft, sondern im Hier und Jetzt“.
In Großbritannien, wo die Vorbereitungen für die UN-Klimakonferenz im November auf Hochtouren laufen, wurde die Regierung von Boris Johnson dieser Tage von dem eigenen Beratungsgremium Climate Change Committee (CCC) angegriffen. Das Land sei auf den Klimawandel nicht vorbereitet und erfülle nur ein Fünftel seiner Klimaversprechen. Laut dem Bericht des CCC seien die geplanten Maßnahmen inadäquat, die Umsetzung vielfach mangelhaft und die Öffentlichkeit nicht eingebunden.
Kohle-Koalition
Global gesehen werden die Klimaziele durch Pläne für hunderte neue Kohleminen gefährdet, so die Organisation Global Energy Monitor. In einer weltweiten Untersuchung basierend auf Daten des neuen Global Coal Mine Tracker, errechnen die Experten, dass diese Projekte zu einer Erhöhung der Kohleproduktion um 30 Prozent führen könnten.
In einem Gastbeitrag für Carbon Brief schreibt Analyst Dr. Ryan Driskell Tate von mehr als 400 neuen Kohleabbauprojekten, die sich in einigen kohlereichen Gebieten in China, Australien, Indien und Russland konzentrieren.
Dabei habe die Internationale Energieagentur (IEA) neulich errechnet, dass es, um das 1,5 Grad Ziel einzuhalten, keine neuen Kohleminen geben sollte. Die UN-Umweltorganisation, so Tate weiter, habe im letzten Jahr errechnet, der Kohleabbau müsste jährlich um 11 Prozent reduziert werden, um dieses Ziel zu erreichen. Damit wären wir wieder bei meinem ursprünglichen Thema. Wir wissen, was wir tun müssen – aber wie genau kommen wir dahin? Wird die Rhetorik der „konvertierten“ Länder in konkretes Handeln umgesetzt werden? Werden die „fossilen“ Staaten sich noch rechtzeitig korrigieren, damit die Welt das 1,5 Grad-Ziel einhalten kann – ein Ziel, das bereits viel zu hoch ist, um schwerstwiegende Auswirkungen der Klimaerwärmung zu vermeiden? Oder werden wir uns auf noch unerprobten, mit Risiken behafteten Methoden des „Geoengineering“ verlassen müssen, um die „Worst-Case-Szenarien“ zu verhindern? Ich wende mich am besten wieder meinem ursprünglich geplanten Thema zu: Könnte Geoengineering die Arktis und den Rest des Planeten wirklich wieder kühlen? Darf die Menschheit überhaupt sich derart in die Natur einmischen? Und lenkt das erhöhte Medieninteresse an solchen Themen nicht von der Notwendigkeit ab, unseren Ausstoß an Treibhausgasen sofort und drastisch zu reduzieren?