Die Infrastruktur von Städten und Gemeinden in der Arktis ist oft nicht vergleichbar mit der in temperierten und industrialisierten Regionen. Während Straßen, Energie, Schulen und eine grundlegende Gesundheitsversorgung meist vorhanden ist, fehlen hingegen fast überall Anlagen zur Abwasserreinigung, mit bisher nicht bezifferten und kaum untersuchten Folgen für die arktische marine Umwelt. Auch in Spitzbergens Hauptort Longyearbyen wird das Abwasser unbehandelt in den Fjord geleitet. Ein norwegisches Forscherteam hat nun in einer Fallstudie die Menge an eingeleiteten Mikrofasern bestimmt sowie deren Verbreitung im Fjord und mögliche Auswirkungen auf die Meereslebewesen untersucht.
Longyearbyen liegt im Westen Spitzbergens am Adventfjord, einem Seitenfjord des Isfjord, und ist mit etwa 2.400 Einwohnern der größte Ort auf dem Svalbard-Archipel. Einst als Bergarbeiterstadt gegründet leben heute vor allem Wissenschaftler, Studenten, Tourismusunternehmer und deren Beschäftigte hier. Die Infrastruktur ist modern und bietet Einwohnern und Besuchern Abwechslung mit Restaurants, Kneipen, Hotels, Geschäften, einem Kino und einem Schwimmbad. Trotz der für arktische Verhältnisse außergewöhnlich vielfältigen «Ausstattung» Longyearbyens, ein Abwasserreinigungssystem ist nicht vorhanden. Somit gelangen nicht nur sämtliche organische Abwässer aus Haushalten und Betrieben inklusive Wasch- und Putzmittelrückständen in den Adventfjord sondern auch Mikrofasern, die beim Waschen aus der Kleidung gelöst werden. Aufgrund der klimatischen Bedingungen ist der Anteil isolierender Funktionskleidung, häufig aus synthetischen Materialien, entsprechend hoch und in dem arktischen Ort ist die Emission von Mikrofasern daher besonders groß.
Das Forscherteam entnahm mehrere Proben des Abwassers direkt an der Pumpstation von Longyearbyen und ermittelte einen jährlichen Eintrag von etwa 18 Milliarden Mikrofasern mit einer Größe zwischen 50 Mikrometern und 5 Millimetern. Das ist ungefähr dieselbe Menge wie das kanadische Vancouver mit 1,3 Millionen Einwohnern nach der Abwasserbehandlung in einem zweistufigen Reinigungssystem pro Jahr in die Umwelt entlässt.
Allein beim Waschen einer Jeans, die für gewöhnlich aus Baumwolle hergestellt ist, können sich 56.000 Fasern lösen. Eine Waschladung mit sechs Kilogramm synthetischer Acryl-Kleidung kann 700.000 Fasern entlassen. Keine Abwasserreinigungsanlage kann die Mikrofasern aus Polyester, Polyamid, Polyacryl u.a. bisher vollständig herausfiltern. Es gibt jedoch Systeme, die in der Lage sind, etwa 99 Prozent der Fasern zurückzuhalten, wie z.B. in Vancouver.
«Wir hoffen, dass diese Studie dazu beitragen kann, den Fokus auf die Notwendigkeit einer besseren Infrastruktur in kleinen Gemeinden und gefährdeten Gebieten zu erhöhen. Das Potenzial für Schäden an der arktischen Umwelt ist hoch.»
Claudia Halsband, Meeresökologin bei der norwegischen Firma Akvaplan-niva und Co-Autorin der Studie
Zusätzlich simulierten die Wissenschaftler die Verbreitung der Fasern im Fjord ausgehend von der Pumpstation, wobei sie die verschiedenen Mikrofasermaterialien nach ihrer Dichte (und ihrem Auftrieb im Wasser) unterschieden in leicht, neutral, schwer und sehr schwer. Die Modellierung ergab, dass die leichten (Polypropylen) und neutralen Fasern an der Oberfläche verbleiben und relativ schnell — innerhalb von Stunden oder Tagen — mit der Strömung aus dem Fjord getragen werden. Die schweren (Polyamid) und sehr schweren Fasern (Wolle) hingegen sanken im Wesentlichen auf den Meeresboden und bleiben im Fjord.
Für die Ruderfußkrebse, Larven von Muscheln, Schnecken und Seepocken und andere Planktonorganismen sowie für die Tieren am Meeresboden wie Muscheln oder Borstenwürmer und ihre Fressfeinde könnten die hohen Mikrofaserkonzentrationen negative Auswirkungen haben, wobei hier hierzu noch viel Forschung nötig ist.
Das Bewusstsein für dieses Umweltproblem in Longyearbyen ist vorhanden und auch die Behörden diskutieren über Lösungen. Konkrete Pläne für die Abwasseraufbereitung gibt es jedoch nicht. Laut der Studie sind in ganz Norwegen etwa eine Million Haushalte nicht an ein Abwasserreinigungssystem angeschlossen und die Autoren gehen davon aus, dass das Land jährlich drei Billionen — 3.000.000.000.000 — Mikrofasern in die Umwelt emittiert. Eine andere Studie schätzt die weltweite Menge an Mikrofasern im obersten Meter der Ozeane auf 90.000 bis 380.000 Tonnen.
Die Autoren fordern angesichts der vielen kleinen und größeren Ansiedlungen in der Arktis, die größtenteils nicht über Abwasserreinigungsanlagen verfügen, dort entsprechende Systeme zu installieren. Die Technologie ist vorhanden und könnte bei Umsetzung den größten Teil der Mikrofaseremissionen verhindern und so die Meeresbewohner und nicht zuletzt die Menschen, die ihre Nahrung aus den Ozeanen beziehen, schützen.
Individuelle Lösungsansätze, die einfach in den Haushalten umgesetzt werden können, gibt es bereits, beispielsweise in Form von Wäschebeuteln, die in der Waschmaschine Fasern zurückhalten.
Julia Hager, PolarJournal