Über Jahrtausende haben die Inuit ihr Wissen über Tierwanderungen, das Verhalten der Tiere, über Eisbedingungen und viele weitere natürliche Prozesse weitergegeben. Ihr Überleben hing unmittelbar unter anderem davon ab, das Eis richtig einzuschätzen oder die saisonalen Ruheplätze der Walrosse zu kennen. In den letzten Jahrzehnten haben die Inuit allerdings drastische Veränderungen der Umweltbedingungen in der Arktis erlebt und sie können sich nicht mehr auf ihr altes Wissen verlassen. Die Beobachtungen der Inuit haben kanadische Forscher nun in einer Studie über das Migrationsverhalten und die Verbreitung von Walrossen (Odobenus rosmarus) herangezogen.
Es gibt zwei Unterarten von Walrossen — das Pazifische (Odobenus rosmarus divergens) und das Atlantische Walross (Odobenus rosmarus rosmarus). Pazifische Walrosse bevölkern die Gewässer und Küsten der Tschuktschen-, Bering- und Laptewsee während die Atlantischen Walrosse in Nordost-Kanada, Grönland, Spitzbergen und in der Barents- und Karasee leben. Der Bestand des Pazifischen Walrosses ist mit ca. 200.000 Tieren acht Mal größer als der des Atlantischen Walrosses mit etwa 25.000 Tieren, wobei letztere von der IUCN (Weltnaturschutzunion) als potenziell gefährdet eingestuft werden.
Die Auswirkungen des Klimawandels in der Arktis haben bereits einen deutlichen Einfluss auf die Verbreitung und Ökologie der polaren Fauna. Für Pazifische Walrosse, Belugas und Ringelrobben sind negative Effekte der Veränderungen bereits bekannt. Den Einfluss der rasanten Umweltveränderungen auf Atlantische Walrosse haben Wissenschaftler der Trent University in Peterborough, Ontario, vom kanadischen Umweltministerium und vom Ministerium für Fischerei und Ozeane nun untersucht.
Inuit-Jäger als wichtige Informationsquelle
Das Ziel der Studie war, die räumlichen und zeitlichen Veränderungen der Verbreitung des Atlantischen Walrosses in Nunavik (Nord-Québec, Kanada) zu untersuchen. Da wissenschaftliche Langzeitdaten über Tiere der Arktis sehr rar sind, setzte das Forscherteam in seiner Studie, die Teil eines größeren Projekts ist und vor kurzem in der Fachzeitschrift Polar Biology veröffentlicht wurde, auf das Traditionelle und Lokale Ökologische Wissen von Inuit-Jägern (TEK/LEK — Traditional and Local Ecological Knowledge). Die Jäger leben in einer engen Beziehung zu den Tieren und ihr Wissen ist entscheidend, um die Ökologie und Verbreitung arktischer Wildtiere zu verstehen, so die Autoren der Studie.
Die Wissenschaftler befragten im Jahr 2013 insgesamt 33 lokale Jäger und Älteste zwischen 35 und 85 Jahren aus vier Gemeinden in Nunavik (Kangiqsualujjuaq, Quaqtaq, Ivujivik und Inukjuak) und dokumentierten deren Wissen und Beobachtungen über den Zeitraum von 1940 bis 2010. Einerseits ging es den Forschern darum, Veränderungen in den Landnutzungsmustern und Jagdmethoden der Inuit zu erfassen und andererseits untersuchten sie, ob sich die Verbreitungs- und Migrationsmuster der Atlantischen Walrosse um Nunavik verändert haben.
Weniger Jagd auf Walrosse
Die Interviews der Inuit haben ergeben, dass sich über den Zeitraum von 70 Jahren sowohl ihre Jagdmethoden als auch der Umfang der Jagd auf Walrosse gravierend verändert hat. Mit dem Aufkommen der Motorboote und Schneemobile Ende der 1960er Jahre reduzierte sich die Zahl der Schlittenhunde deutlich. Da die Hunde mit Walrossfleisch gefüttert wurden, bestand seitdem für viele Jäger nicht mehr die Notwendigkeit, eine große Zahl an Walrossen zu erlegen. Für die menschliche Ernährung spielten Walrosse keine sehr große Rolle. Heutzutage ist die Jagd auf Walrosse weniger verbreitet, wie die Inuit berichteten, was auch auf die hohen Treibstoffkosten zurückzuführen ist. In der gesamten Region Nunavik werden heute nur 30 – 60 Tiere pro Jahr erlegt, etwa halb so viele wie in den 1980er Jahren.
Auch nutzen die Inuit heute kleinere Jagdgebiete über einen kürzeren Zeitraum als früher, was teilweise auch mit der Einführung der Motorfahrzeuge zu begründen ist. Während die Menschen noch in den 1940er und 1950er Jahren nomadisch lebten und in Sommer- und Wintercamps lebten, wurden sie gegen Ende der 1960er Jahre sesshaft, da ihre Jagdgründe mit Motorbooten und Schneemobilen viel schneller zu erreichen waren. Die Einführung der Satellitentelefone hat trug ebenfalls zur Verringerung des Zeitaufwands für die Jagd bei.
Im Gebiet um Sleeper Island wurde die Jagd auf Walrosse in den 1990er Jahren hingegen ganz eingestellt, da viele Tiere positiv auf den parasitischen Rundwurm Trichinella nativa getestet wurden, der beim Menschen Trichinellose verursachen kann.
Verbreitung der Walrosse und der Klimawandel
Neben den Veränderungen, die sich für die Jäger ergaben, haben sich auch die Verbreitung der Walrosse und ihr Migrationsverhalten verändert. So haben die Tiere manche Strände, die sie als Ruheplätze nutzten, aufgegeben. Möglicherweise erlegten einige Jäger in der Vergangenheit Walrosse auch an Land, was die sensiblen Tiere aus der Region vertrieben hat. Eine andere Erklärung wäre eine Veränderung in der Nahrungsverfügbarkeit — Walrosse ernähren sich hauptsächlich von am Meeresboden lebenden Muscheln. Allerdings haben die Autoren auch eine saisonale Neu- oder Wiederbesiedlung von Ruheplätzen beobachtet, z.B. auf der Insel Digges bei Ivujivik.
«Die Walrosswanderung fand früher im August statt. Ich habe früher mit den Ältesten gejagt, die jetzt verstorben sind. Letzten Sommer, im Juli 2013, war es einen Monat früher. Die Wanderung aller Meeressäuger hat sich jetzt verändert.»
Paul Jararuse, ein Studienteilnehmer aus Kangiqsualujjuaq, der regelmäßig nach Quaqtaq kommt
Eine Veränderung, die wohl den Auswirkungen des Klimawandels zuzuschreiben ist, sind die zeitlich weit nach vorn verschobenen Wanderungen der Walrosse. Die Untersuchungen der Autoren ergaben, dass vor den 1990er Jahren die Walrosse im August in der Gegend um Quaqtaq eintrafen. Heute kommen die ersten Walrosse bereits Ende Juni an, also einen guten Monat früher. Auch Jäger aus Alaska beobachten eine um einen Monat vorgezogene Frühjahrswanderung der Pazifischen Walrosse. Die Studienteilnehmer gaben an, dass das frühere Schmelzen des Meereises die Atlantischen Walrosse zu der früheren Wanderung veranlasst. Bei anderen arktischen Arten wie den Belugawalen lässt sich ähnliches beobachten.
Die Inuit berichteten auch, dass früher die Tiere nach dem Winter in einer bestimmten Reihenfolge an die Küsten zurückkamen. «Früher waren es zuerst Belugas, dann Walrosse, aber heute kommen alle Tiere gleichzeitig», erklärt Bobby Baron aus Kangiqsualujjuaq.
Julia Hager, PolarJournal