Kanadisches Meereis-Projekt gewinnt ersten «Arctic Action» Preis | Polarjournal
Der Preisträger Dr. Trevor Bell (ganz links) stellt sich gemeinsam mit Lars Kullerud von der Arktis-Universität (2.v.l.), dem Preisstifter Dr. Frederik Paulsen (3.v.l.) und Arctic Circle-Vorsitzendem Olafúr Ragnar Grímsson (ganz rechts) den Fotografen. Bild: Arctic Circle via Flickr

Schon seit Jahrtausenden reisen die Bewohner der Arktis auf dem Meereis. Dadurch entstand eine tiefe Verbindung der Inuit mit dem eisigen Untergrund. Doch der Klimawandel lässt nun das Fortbewegen auf dem Eis zu einem immer gefährlicheren und manchmal unmöglichen Unterfangen werden. Ein kanadisches Projekt hat nun mit relativ einfachen Mitteln einen Weg gefunden, wie lokale Bewohner im kanadischen Norden die Gefahr reduzieren können. Gleichzeitig fördert das Projekt aber auch gesellschaftliche und kulturelle Aspekte der Inuit. Nun wurde das Projekt am diesjährigen «Arctic Circle»-Treffen mit dem neu vergebenen «Frederik-Paulsen Arctic Academic Action Award»-Preis ausgezeichnet.

Der mit 100’000 Euro dotierte Preis wurde am vergangenen Freitag vom Präsidenten der University of the Arctic, Lars Kullerud, an den Initiator von «SmartICE», Dr. Trevor Bell von der Memorial University of Newfoundland, übergeben. An der Verleihung nahmen auch der Vorsitzende des Arctic Circle, Olfúr Ragnar Grímsson und der Stifter des Preises, Dr. Frederik Paulsen, statt. Dieser überreichte Bell auch eine Schweizer Uhr und meinte mit einem Augenzwinkern, dass diese nicht so vergänglich sei wie Geld oder Meereis. Sichtlich gerührt nahm Dr. Bell den Preis entgegen und bedankte sich beim Komitee und den Anwesenden für die Ehrung. Er unterstrich in seiner Rede die Bedeutung dieses Preises besonders für die lokale Bevölkerung im Norden Kanadas, die unter dem sich rasant zurückziehenden Meereis immer stärker leide. Nicht nur, weil die Jagd- und Fischgründe dadurch verlorengingen, sondern auch der Weg dorthin und in andere Gemeinden. Reisen auf dem Eis werde immer gefährlicher und SmartICE sei ins Leben gerufen worden, um diesem Aspekt entgegenzuwirken und gleichzeitig die Inuit-Kultur und -Gesellschaft zu stärken. Bell erhielt am Ende seiner Rede eine minutenlange Standing Ovation.

Das Projekt «SmartICE» wurde von Dr. Trevor Bell initiiert. Gemeinsam mit Inuit-Partnern will das Projekt zum einen das Reise auf dem Meereis sicherer machen. Zum anderen soll aber das Projekt auch gesellschaftlich die Inuit-Kultur in verschiedener Hinsicht fördern. Bild: Michael Wenger

Der „Frederik Paulsen Arctic Academic Action Award“ will Projekte ehren, die den Auswirkungen des Klimawandels in der Arktis entgegentreten. Mit dem Preis zeichnet das Komitee ein nun zum ersten Mal ein sehr integratives Projekt im kanadischen Arktisgebiet aus. Denn SmartICE bietet auf der einen Seite der lokalen Bevölkerung einen wichtigen Service, nämlich die sichere Überquerung von Meereis, kostenlos und für jede Person erhältlich an. «SmartICE befähigt Inuit-Gemeinden, ihr eigenes Eis zu überwachen, um mit der Unvorhersehbarkeit des Meereises aufgrund des Klimawandels umzugehen», erklärt Dr. Bell nach der Preisverleihung. Zum anderen fördert das Projekt aber auch die kulturelle und gesellschaftliche Identität er Inuit, indem sie alle wesentlichen Aspekte des Projekts, von der Produktion bis zur Kommunikation und Training in deren Hände legt. Damit soll die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung der Inuitgemeinden gestärkt und gleichzeitig lokales traditionelles Wissen weitergegeben und integriert werden. Seit 2016 hat das Projekt bereits mehrere nationale Preise für seinen neuartigen Ansatz gewonnen.

Für die Inuit im Norden Kanadas und auch anderswo in der Arktis ist das Reisen auf dem Meereis essentiell. Nur so können sie von Herbst bis Frühjahr ihre Jagd- und Fischereigebiete erreichen. Doch das schwindende Meereis macht das Fahren zu einer enorm gefährlichen Angelegenheit. Video: Michael Wenger

SmartICE selbst ist eine Gemeinde-basiertes arbeitsintegrierendes Sozialunternehmen (WISE). Mithilfe von transportablen Messgeräten und Messbojen wird das Meereis in insgesamt 24 Gemeinden in Nunavut, Nunatsiavut und den Nordwestterritorien, gemessen und die Daten für die Bewohner kostenlos zur Verfügung gestellt. Die transportablen Messgeräte (SmartQAMUTIK) werden von speziell ausgebildeten und erfahrenen Inuit über das Meereis gezogen und messen so die Eisdicke. Gleichzeitig messen stationäre «SmartBUOYS» ebenfalls Eisdicke und verschiedene Parameter des darunterliegenden Meeres. Dadurch entstehen klare und sicherere Wege über die eisige Unterlage. Dies ist auch enorm wichtig, wie Rex Holwell, Operationsmanager für die Region Nunatsiavut, erklärt. «Allein in einer Gemeinde sind bisher 1 von 12 Einwohnern durch das Meereis durchgebrochen», sagte er anlässlich einer Präsentation. «Dies hängt damit zusammen, dass sich das Meereis immer später bildet und dünner wird. Dadurch können wir kaum noch unsere traditionellen Jagd- und Fischereigebiete erreichen.» Mit dem Preisgeld sollen vor allem nun die technischen Aspekte gefördert werden. Geplant sind neue, noch sensitivere Sensoren und die Nutzung von Drohnen zur leichteren und sichereren Überwachung des immer dünner werdenden Meereises.

Wo man gefahrenlos über das Meereis fahren kann, wurde früher von den älteren Inuit an die jüngere Generation mündlich weitergegeben. SmartICE will diese Tradition weiterführen und den Inuit Unterstützung bieten, sie ins digitale Zeitalter zu bringen. Dies stärkt auch Inuktitut und andere Inuit-Sprachen im nördlichen Kanada. Bild: Michael Wenger

Ein weiterer Aspekt des Projektes ist die Einbindung des traditionellen Wissens der Inuit über Meereis. «Inuit weisen die längsten Aufzeichnungen über Meereis auf», sagt Dr. Bell. Allein in Nunavut sind 140 Begriffe für Meereis in Inuktitut dokumentiert. All dieses Wissen wurde von Generation zu Generation mündlich überliefert. Doch bis vor nicht allzu langer Zeit war es Inuit verboten, ihre eigenen Sprachen zu sprechen und ihre Kultur zu leben. Dadurch ging viel Wissen beinahe verloren. SmartICE will hier eine Brücke schlagen. Dazu wird mit den Ältesten beispielsweise Karten erstellt und digitalisiert und Handbücher mit den Ausdrücken für die verschiedenen Meereisstrukturen wie Rinnen (Aajuraq) oder offene Wasserflächen (Immatiliqiktuq) veröffentlicht. So können die jüngeren Generationen das Wissen und die Sprache lernen.

SmartICE setzt auch auf lokale Ausbildung und Training für Jugendliche. In Regionen, in denen es schwierig ist, eine Aus- oder Weiterbildung vor Ort zu erhalten, ist dies besonders wichtig. Denn es fördert die gemeinschaftlichen und individuellen Fähigkeiten der jungen Menschen und baut Selbstvertrauen auf. Bild: Michael Wenger

Neben dem Betreiben der Messgeräte setzt SmartICE auch auf die lokale Produktion der Messbojen und das Ausbilden von neuen Kräften. Dazu wurde in der Gemeinde Nain das «Northern Production Center» gegründet, wo Jugendlich technisch und sozial aus- und weitergebildet werden. Auch in Nunavut beispielsweise wurden im vergangenen Jahr trotz Pandemie neun Jugendliche ausgebildet und 50 Ältere und Gemeindemitglieder in die Arbeit integriert. Die fördert zum einen die wirtschaftliche Entwicklung der Gemeinden, da die jungen Menschen verschiedene Arbeitsfähigkeiten entwickeln und so fit werden für die Arbeitswelt. Zum anderen stärkt es auch die sozialen und emotionalen Fähigkeiten und die traditionellen Aktivitäten der jüngeren Generation. Dadurch entsteht eine der wichtigsten Fähigkeiten, die für das Leben und Überleben in einer sich schnell ändernden Arktis notwendig ist: das Vertrauen in sich selbst und in das Wissen aus der Vergangenheit. Denn nur so haben die Menschen dort eine Zukunft.

Dr. Michael Wenger, PolarJournal

Mehr zu SmartICE und ihrer Arbeit: Link zur Webseite

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