Die Rechte indigener Völker in der Arktis und der Klimawandel | Polarjournal
Die traditionelle Lebensweise der indigenen Völker in der Arktis ist nicht nur durch den Klimawandel, sondern auch durch «nachhaltige» Industrieprojekte gefährdet. Foto: Heiner Kubny

Der Anteil indigener Völker an der Weltbevölkerung liegt bei nur fünf Prozent, aber sie schützen 80 Prozent der verbliebenen Biodiversität. Über Jahrzehnte wurden sie auf weltweiten Konferenzen, auch den vergangenen Klimagipfeln, nicht beachtet oder nur unzureichend angehört. Erst mit dem Pariser Klimaabkommen von 2015 wurde die Notwendigkeit anerkannt, die Praktiken und Bemühungen lokaler Gemeinschaften und indigener Völker im Zusammenhang mit der Bewältigung des Klimawandels zu stärken. Und auf der COP26 in Glasgow präsentieren sich Vertreter indigener Völker eindringlicher denn je — weil ihre Lebensgrundlagen zunehmend zerstört werden.
Ein Side-Event war die Veranstaltung «Indigenous people’s rights and climate change in the Arctic», die am Mittwoch online über den Geneva Cryosphere Hub stattfand.

Im Rahmen des Online-Events, das von der Gesellschaft für bedrohte Völker Schweiz (GfbV) veranstaltet und von deren Co-Direktor Christoph Wiedmer moderiert wurde, hatten vor allem Rodion Sulyandziga, Direktor des Zentrums zur Unterstützung der indigenen Völker des Nordens und Mitglied des Expertengremiums für die Rechte indigener Völker der Vereinten Nationen, und Tabea Willi, Kampagnenleiterin der GfbV, das Wort. Sie sprachen unter anderem über die Schwierigkeiten, mit denen viele indigene Gemeinschaften in der Arktis aufgrund des Klimawandels konfrontiert sind und wie auch eigentlich nachhaltige Projekte im hohen Norden, die der Reduzierung von Emissionen dienen, der Lebensweise von Indigenen schaden.

Rodion Sulyandziga, der dem Volk der Udege angehört und auch Mitglied der Arbeitsgruppe Local Communities and Indigenous Peoples Platform (LCIPP) unter dem UN Framework Convention on Climate Change (UNFCCC) ist, hat sich zunächst erfreut darüber geäußert, dass momentan mehr über die Umwelt, die Klimakrise und Menschenrechte gesprochen wird als jemals zuvor, um die richtigen und passenden Lösungen zu finden. Er sprach auch darüber, wie die Entwicklung der indigenen Bewegung von Klimagipfel zu Klimagipfel immer weiter wuchs und sich langsam Gehör verschaffen konnte. Nach jahrelangem Kampf und schwieriger Lobbyarbeit konnten die Vertreter indigener Völker im Jahr 2015 in Paris schließlich mit der im Abkommen festgeschrieben Anerkennung ihrer Rechte und der Berücksichtigung ihres traditionellen Wissens ihren wichtigsten Erfolg verbuchen. 

Rodion Sulyandziga ist als Vertreter des Volkes der Udege auf dem Klimagipfel in Glasgow. Foto: Broddi/UNPFII

Nach den Errungenschaften von Paris wurde für den Austausch die LCIPP (Plattform für Lokale Gemeinschaften und Indigene Völker) gegründet, «um das Wissen, die Technologien, die Praktiken und die Bemühungen lokaler Gemeinschaften und indigener Völker im Zusammenhang mit der Bewältigung des Klimawandels zu stärken, den Erfahrungsaustausch und die Weitergabe bewährter Praktiken und Erkenntnisse zur Eindämmung des Klimawandels und zur Anpassung an den Klimawandel auf ganzheitliche und integrierte Weise zu erleichtern und das Engagement lokaler Gemeinschaften und indigener Völker im UNFCCC-Prozess zu stärken.»

In seiner zweiten Präsentation kam Rodion Sulyandziga darauf zu sprechen, wie der Klimawandel humanisiert werden kann, wie also Anpassungen erfolgen können, ohne die Rechte indigener Völker zu verletzen. Dies ist für ihn die wichtigste Mission neben der Herausforderung, den Klimawandel einzudämmen. Ein Ansatz wäre aus seiner Sicht, die Arktis nicht mehr als eine Art «tote Zone» darzustellen, in der es nur Kälte und ikonische Tiere wie den Eisbären gibt, wie es häufig in den Massenmedien wiedergegeben wird. Vielmehr ist die Arktis seit Jahrhunderten das Territorium von Menschen mit einer lebendigen Geschichte. Er betont, dass die indigenen Völker ein Verständnis in der restlichen Welt herstellen wollen für die First Nations der Arktis, die in Harmonie mit der Umwelt leben und bereits schwerwiegende Klimaveränderungen erfahren.

«Indigene Völker müssen Teil der Lösung für den Klimawandel sein. Das liegt daran, dass sie das traditionelle Wissen ihrer Vorfahren besitzen. Der wichtige Wert dieses Wissens kann und darf nicht unterschätzt werden. Sie sind auch von entscheidender Bedeutung, wenn es darum geht, heute und in Zukunft Lösungen zu finden. Das Pariser Abkommen zum Klimawandel erkennt dies an. Es erkennt Ihre Rolle beim Aufbau einer Welt an, die angesichts der Klimaauswirkungen widerstandsfähig ist.»

Patricia Espinosa, Exekutivsekretärin des UNFCCC

In der Russischen Arktis ist der Weg zu einer Humanisierung allerdings noch sehr weit. Wie Rodion Sulyandziga formulierte, ist die russische Regierung besessen von der Arktis und den in ihr schlummernden Ressourcen Öl, Gas und Diamanten. Auf die Rechte der zahlreichen indigenen Gemeinschaften in Russlands Norden wird angesichts der zu erwartenden enormen Gewinne bei der Erschließung neuer Abbaugebiete keine oder nur wenig Rücksicht genommen. Hinzu kommt das Anpreisen der Nordostpassage in der ganzen Welt und der in der Folge zunehmende Schiffsverkehr, der den Lebensstil der indigenen Gemeinschaften, die Biodiversität und die Umwelt weiter gefährdet.

Einen rechtlichen Rahmen, wie die indigenen Gemeinschaften zu entschädigen sind, wenn sie ihr Land verlieren, wenn Gewässer vergiftet werden (wie 2020 in Norilsk durch den Konzern Nornickel) und somit ihre Nahrung ungenießbar wird, wenn ihre Entwicklung be-/verhindert wird, gibt es nicht. 

Zu keinem Zeitpunkt haben sie bei Erschließungsmaßnahmen ein Mitspracherecht, werden nicht angehört und können nur passiv beobachten. Stattdessen bekommen sie fragwürdige Ausgleichszahlungen angeboten, wie Rodion Sulyandziga berichtet. 

Die Arktis ist eine Goldgrube für die russische Regierung, zum Leidwesen der indigenen Völker, denen noch immer kein Recht auf Land, sauberes Wasser und Nahrung zugestanden wird. Foto: Norilsk Nickel

Die Liste der geplanten Projekte in der Russischen Arktis ist lang, viele davon sollen auf dem Territorium verschiedener indigener Gemeinschaften umgesetzt werden. Für Rodion Sulyandziga gibt es nur eine Lösung in diesem Konflikt: Balance! Er sagt, Entwicklung ist für alle wichtig, aber die Art der Umsetzung ist entscheidend. Daher fordert er die Beachtung der Menschenrechte und den Zugang zu Land und Nahrung für die indigenen Völker. Dafür seien er und all die anderen Vertreter der verschiedenen Völker zur Klimakonferenz gereist. 

Im zweiten Teil der Veranstaltung berichtete Tabea Willi von «Green Economy» – Projekten, die der Eindämmung des Klimawandels dienen sollen, aber keine Rücksicht auf die Rechte der Sami genommen haben, die das einzige anerkannte indigene Volk Europas sind mit Gemeinschaften in Schweden, Norwegen, Finnland und Russland. Nur zehn Prozent von ihnen sind noch traditionelle Rentierhirten und als solche stark gefährdet.

Besonders dreist verlief laut Tabea Willi die Planung und der Bau zweier Windparks in Norwegen in einem Gebiet, das die Rentiere der Sami als Winterweiden nutzen. Obwohl nach Klagen der Sami, die auf allen Ebenen gegen die Projekte kämpften, die Gerichte noch nicht endgültig über deren Umsetzung entschieden hatten, wurden beide Windparks mit über 150 Windkraftanlagen errichtet. Erst im Nachhinein, im Oktober diesen Jahres, entschied das Oberste Gericht Norwegens, dass die Windräder den samischen Rentierhirten schaden. Die samische Gemeinschaft Åerjel Njaarke Sijte verlor beispielsweise 44 Prozent ihrer Winterweiden, weil die Rentiere das Areal mit den Windkraftanlagen nun meiden.

Fosen Vind Windpark in Roan, Norwegen. Foto: Ole Martin Wold/Flickr, CC BY-NC-ND 2.0

Für die Sami fühlt es sich an wie die Wiederholung der Geschichte, nur diesmal als «Grüner Kolonialismus» mit der Rechtfertigung, dass die Projekte erneuerbare Energien erzeugen, wie Tabea Willi wiedergibt. Würde den Sami das Land gehören, statt nur ein Nutzungsrecht zu haben, hätten sie es wohl sehr viel leichter, aber so werden sie in Entscheidungsprozessen übergangen ohne eine Möglichkeit der Einflussnahme und bei Verträglichkeitsprüfungen nicht eingeschlossen. 

Im Fall des Fosen Vind Windparks, an dem auch das Schweizer Energieunternehmen BKW und die Credit Suisse beteiligt sind, forderte sogar der UN-Ausschuss für die Beseitigung aller Formen von Rassendiskriminierung die norwegische Regierung auf, das Projekt zu stoppen bis es eine Einigung gibt. Von Seiten der Regierung gab es keine Antwort und auch die beiden Schweizer Unternehmen erfüllten ihre menschenrechtliche Sorgfaltspflicht nicht und ließen das Projekt weiterlaufen.
Die GfbV konnte später durch Druck auf die BKW für zukünftige Projekte immerhin ein Übereinkommen erreichen, das den Schutz der Rechte indigener Gemeinschaften und die Verbesserung der Sorgfaltspflicht beinhaltet.

Wie es mit den beiden Windparks nach dem aktuellen Urteil weitergeht, ist noch völlig unklar. Möglicherweise müssen die Anlagen wieder abgebaut werden. Für zukünftige Projekte könnte dieses Urteil in jedem Fall wegweisend sein, wie beispielsweise für den geplanten Kupferabbau durch die norwegische Firma Nussir, ebenfalls auf Sami-Gebiet. Die Mine würde CO2-neutral operieren und wichtige Rohstoffe für den Ausbau der Elektromobilität liefern, doch die soziale Komponente wurde komplett vernachlässigt. Der Abbau soll auf der Weidefläche von 8.000 Rentieren stattfinden und zudem ist geplant, zwei Millionen Tonnen giftige Bergbaurückstände pro Jahr in den Repparfjord, ein gefährdetes Lachsgebiet, zu leiten, so Tabea Willi. Wieder gab es keine Gespräche mit den Sami, die gegen das Projekt protestieren und Klagen einreichten. Nach dem Windpark-Urteil ist derzeit unklar, ob die Mine realisiert wird. Auch in diesem Projekt war die Credit Suisse beteiligt, die allerdings auf öffentlichen Druck hin ihre Anteile an Nussir zurückgab.

Christoph Wiedmer, Co-Direktor der Gesellschaft für bedrohte Völker Schweiz, und Tabea Willi, Leiterin der Arktis-Kampagne bei der Gesellschaft für bedrohte Völker Schweiz. Fotos: Gesellschaft für bedrohte Völker Schweiz

Weiter berichtet Tabea Willi, dass die Credit Suisse, wie auch die UBS, zu den zehn größten Investoren von Nornickel gehört, die für massive Umweltverschmutzung auf der Taymyr-Halbinsel und Menschenrechtsverletzungen verantwortlich ist. Auch bei Nornickel setzt sich die GfbV für die Einführung von Mindeststandards ein, wie die Konsultation der indigenen Gemeinschaften während der Planungsphase von Projekten und der Vermeidung von Umweltzerstörung bzw. Reparieren von vorhandenen Umweltschäden.

Abschließend berichtet Tabea Willi, dass laut der Weltbank der Abbau von sogenannten Übergangsmineralen um 500 Prozent bis 2050 ansteigen könnte, um die große Nachfrage für saubere Technologien zu stillen. Eine verpflichtende menschenrechtliche Sorgfaltspflicht und weitere Maßnahmen auf globaler Ebene, auch in der neuen «Green Economy», sollte angesichts zunehmender Menschenrechtsverletzungen nicht nur im globalen Süden eine Lösung zum Schutz der indigenen Gemeinschaften sein, so Tabea Willi.

Die Veranstaltung verdeutlichte eindrücklich die schwerwiegenden Probleme, denen die indigenen Völker in der Arktis, die praktisch keinen Anteil an der Klimakrise haben, ausgesetzt sind. Aber die Präsenz und Stärke, die sie und andere Völker der Welt mittlerweile auf internationaler Bühne erreicht haben, nicht zuletzt dank Organisationen wie der Gesellschaft für bedrohte Völker Schweiz, lässt hoffen auf eine bessere und friedlichere Zukunft für sie, nicht nur im Einklang mit der Natur, sondern auch mit der sogenannten «zivilisierten» Welt.

Julia Hager, PolarJournal

Link zur Gesellschaft für bedrohte Völker Schweiz: https://www.gfbv.ch/de/  

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