Die Gewässer unter den zahlreichen Eisschelfen, die vom antarktischen Kontinent in das Südpolarmeer ragen, sind noch lebensfeindlicher als der offene Südliche Ozean. Das trifft insbesondere auf die Wasserschichten unter den großen Eisschelfen wie dem Ross-Schelfeis zu. Hier schwimmt ein mehrere hundert Meter dicker Eispanzer auf dem Ozean auf und bedeckt eine Fläche von etwa 500.000 Quadratkilometern. Im Wasser unter diesem Schelfeis, hunderte Kilometer vom offenen Ozean entfernt, haben Forscher in einer von der University of Otago, Neuseeland, geleiteten Studie jetzt eine vielfältige Mikrobengemeinschaft entdeckt, obwohl dort das ganze Jahr über völlige Dunkelheit und Nährstoffmangel herrscht.
Anders als man vermuten könnte, gibt es unter dem Schelfeis auch hunderte Kilometer von dessen Kante und offenem Wasser entfernt erstaunlich reichhaltiges Leben, wie bereits eine Studie über das Leben unter dem Filchner-Ronne-Eisschelf aus dem vergangenen Jahr zeigte. In der aktuellen Studie, die in der Fachzeitschrift Nature Communications veröffentlicht wurde, untersuchte das internationale Forscherteam gezielt die phylogenetische und funktionale Diversität der Mikrobengemeinschaft unter dem Ross-Eisschelf.
«Schelfeise sind Ausläufer des Inlandeises, die aus dem Kontinent herausragen, auf dem Ozean schwimmen, Küstenbuchten füllen und einzigartige Schelfeis-‚Hohlräume‘ schaffen, deren Erforschung sehr schwierig ist», erklärt Professorin Christina Hulbe, Glaziologin an der University of Otago. «Diese einzigartigen Umgebungen, die Kombination aus großen Fragen und feinen wissenschaftlichen Details und das vielfältige Expertenteam, das nötig ist, um aus allem, was wir messen, einen Sinn zu machen, machen diese Arbeit spannend, lohnend und wichtig.»
Um Proben von der unter dem Schelfeis liegenden Wasserschicht entnehmen zu können, bohrten Experten der Victoria University of Wellington mit einem Heißwasserbohrsystem durch das 300 Meter dicke Eis im Zentrum des Ross-Schelfeises, etwa 300 Kilometer von der Schelfeiskante entfernt. Mit Hilfe einer Pumpe beförderten sie Wasserproben an die Eisoberfläche, die sie mit verschiedenen genetischen Methoden auf die Zusammensetzung der Mikroorganismengemeinschaft analysierten.
Die Ergebnisse überraschten die Forscher: Sie fanden eine ähnliche Diversität und Häufigkeit von Mikroorganismen unter dem Schelfeis wie in der Tiefsee des offenen Ozeans, wenn auch mit einer unterschiedlichen Artenzusammensetzung. Während Licht in beiden Lebensräumen fehlt, stehen den Mikroben unter dem Schelfeis im Gegensatz zu denen in der Tiefsee, keine Nährstoffe zur Verfügung, die aus der lichtdurchfluteten Oberflächenschicht herabrieseln.
«Diese Gemeinschaften, die unter dem Schelfeis leben, müssen daher auf andere Energiequellen angewiesen sein, um zu überleben, aber wir wussten bis jetzt nicht, welche das sind», sagt Sergio Morales, Professor in der Abteilung für Mikrobiologie und Immunologie der University of Otago und Co-Autor der Studie. «Die Aktivität mikrobieller Gemeinschaften wie dieser ist die Grundlage für alle Ökosysteme der Erde, so dass das Verständnis des Lebens in diesem abgelegenen System hilft, das Leben überall auf der Erde zu verstehen.»
Das heißt, die Mikroorganismen decken ihren Energiebedarf aus anorganischen Stoffen wie Ammonium, Nitrit und Schwefelverbindungen, die aus abgestorbener Biomasse freigesetzt wurden, aber auch aus organischen Quellen, wie Morales erklärt. Zum Teil gelangen diese vermutlich durch horizontale Meeresströmungen unter das Schelfeis, die sehr viel langsamer für Nährstoffnachschub sorgen, als der «Meeresschnee», der im offenen Ozean von der Oberfläche in die Tiefsee rieselt.
«Diese organischen Verbindungen werden wahrscheinlich mit Hilfe von Energie aus anorganischen Stoffen und nicht von der Sonne erzeugt, da es Jahre dauern kann, bis das Wasser die Strecke unter dem Schelfeis zurückgelegt hat», fügt Morales hinzu. «Das wirklich Coole ist, dass sich diese Gemeinschaften unter dem Eis von denen im offenen Ozean unterscheiden, was bedeutet, dass es sich um eine verborgene Lebenswelt handelt, die in Abwesenheit von Sonnenlicht fortbesteht.»
Julia Hager, PolarJournal