Unsere Ozeane gelten noch immer als weniger gut erforscht als die Oberfläche des Mondes. Doch Meeresforscher arbeiten beständig daran, die Wissenslücken über die Wiege allen Lebens zu schließen. Ein großes internationales Team mit Wissenschaftlern von insgesamt 13 Institutionen, darunter die Universität Genf (Schweiz), das Norwegian Research Center — NORCE (Norwegen), das IFREMER (Frankreich), das Zentrum für Marine Umweltwissenschaften — MARUM in Bremen und das Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt (beide Deutschland), hat in einer umfassenden Studie die biologische Vielfalt am Meeresboden aller wichtigen Ozeanregionen erfasst und mit bestehenden Daten aus der Wassersäule verknüpft. Herausgekommen ist eine einheitliche Übersicht, die erstmals die gesamte Biodiversität von Mehrzellern in den Weltmeeren von der Oberfläche bis zur Tiefsee abbildet. Passend dazu veröffentlichten Wissenschaftler des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung gestern ihre faszinierende Entdeckung in der arktischen Tiefsee: Auf erloschenen Unterwasservulkanen unweit vom Nordpol wachsen üppige Schwammgärten!
Die großangelegte Studie zur Bestimmung der biologischen Vielfalt in den Ozeanen, die in der Fachzeitschrift Science Advances veröffentlicht wurde, untersuchte im Rahmen von 15 internationalen Tiefseeexpeditionen die Sedimente aus allen wichtigen Meeresregionen vom Arktischen Ozean über das Mittelmeer und den Atlantik und Pazifik bis zum Südlichen Ozean. Die Verknüpfung der Ergebnisse mit bestehenden Daten aus der lichtdurchfluteten und vollkommen dunklen Wassersäule lieferte erstmals ein vollständiges Bild der marinen Biodiversität von mehrzelligen Organismen.
Noch immer sind die Arten, die in den Sedimenten der Tiefsee leben, und deren Ökologie weitgehend unbekannt. Dabei spielen die Organismen am Meeresboden — von Tieren bis zu Mikroben — eine entscheidende Rolle im Nährstoffkreislauf des Ozeans. Sie tragen dazu bei, absinkende organische und anorganische Stoffe, die zum großen Teil von mikroskopischem Plankton aus oberen Wasserschichten stammen, zu binden bzw. zu verwerten und wieder in den Kreislauf zurückzuführen. Somit sind die benthischen (am Meeresboden lebenden) Organismen die Grundlage für das Funktionieren der marinen Nahrungsnetze und das Binden von Kohlenstoff, was beides entscheidenden Einfluss hat auf das globale Klima.
«Es ist wichtig, das zu verstehen und dann auch entsprechende Schutzmaßnahmen ergreifen zu können. Denn das Ökosystem Tiefsee steht, verursacht durch den Menschen, unter enormem Druck: Klimawandel, Tiefsee-Bergbau, Öl- und Gasexploration, Schleppnetze sowie Verschmutzung bedrohen das Leben in den Tiefen des Meeres», sagt Prof. Dr. Angelika Brandt vom Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt, Co-Autorin der Studie.
Sämtliche Proben, die die Wissenschaftler während der verschiedenen Expeditionen sammelten, wurden genetisch analysiert. Die Sequenzierung der DNA der Lebewesen, die die Forscher in den Tiefseesedimentproben fanden, ermöglichte die Differenzierung zwischen benthischen Organismen und sinkendem Plankton, das aus der darüber liegenden Wassersäule auf den Meeresboden gelangt war. Brandt zufolge ergaben die Daten, dass nur etwa ein Drittel der gefundenen Organismen bereits bekannt ist.
«Mit fast 1.700 Proben und zwei Milliarden DNA-Sequenzen von der Oberfläche bis zum Tiefseeboden weltweit erweitert diese so genannte Hochdurchsatz-Umweltgenomik unsere Möglichkeiten, die biologische Vielfalt der Tiefsee, ihre Verbindung zu den darüber liegenden Wassermassen und dem globalen Kohlenstoffkreislauf zu untersuchen und zu verstehen», sagt Tristan Cordier, Forscher am NORCE und Bjerknes Centre for Climate Research und Hauptautor der Studie.
Die Studie ergab zudem, dass die Polarregionen als Hotspots der Kohlenstoffbindung fungieren, bestätigt durch die Häufigkeit und Zusammensetzung der Plankton-DNA in den Tiefseesedimenten. Erstmalig konnten die Wissenschaftler auch ermitteln, welche Organismen in der Planktongemeinschaft am stärksten zur Bindung des atmosphärischen Kohlenstoffs beitragen und somit das Erdklima mitregulieren.
Arktische Unterwasservulkane sind Hotspots für Schwämme
Nicht weniger spannend sind die Entdeckungen, die Forscher des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung in der arktischen Tiefsee machten und die nicht in die Biodiversitätsstudie mit eingeflossen sind. Sie stießen auf dem Langseth-Rücken nur wenige Hundert Kilometer vom Nordpol entfernt auf üppige Schwammgärten, die sich auf den Gipfeln erloschener Unterwasservulkane ausgebreitet haben.
Zunächst war es den AWI-Wissenschaftlern ein Rätsel, wovon sich die Schwämme in einer der nährstoffärmsten und ständig von Meereis bedeckten Ozeanregionen ernähren. Analysen der Schwamm-Expertin Teresa Morganti, Forscherin am Max-Planck-Institut für Marine Mikrobiologie in Bremen und Hauptautorin der Studie, ergaben, dass die Schwämme über mikrobielle Symbionten verfügen, die altes organisches Material verwerten können. Morganti erklärt, dass sie sich so von den Überresten früherer, inzwischen ausgestorbener Bewohner der Seeberge ernähren können – zum Beispiel den Röhren von Würmern, die aus Eiweiß und Chitin bestehen, und anderen dort hängen gebliebenen organischen Resten.
Gemeinsam mit Anna de Kluijver von der Universität Utrecht und dem Labor von Gesine Mollenhauer am AWI fand Morganti heraus, dass vor Tausenden von Jahren Substanzen, die aus dem Inneren des Meeresbodens sickerten, ein üppiges Ökosystem mit zahlreichen Tieren unterstützten. Die Überreste, die nach ihrem Aussterben zurückblieben, bilden nun die Grundlage für diese reichen Schwammgärten.
«Vor unserer Studie war kein ähnlicher Schwammgarten in der zentralen Arktis bekannt. Das Gebiet ist bisher noch nicht ausreichend erforscht, die Beobachtung und Beprobung solcher eisbedeckten Tiefsee-Ökosysteme ist sehr aufwändig», betont Morganti.
Die Biomasse der Schwämme auf dem Langseth-Rücken ist vergleichbar mit der in nährstoffreichen, seichteren Schwammgründen. «Dies ist ein einzigartiges Ökosystem. So etwas haben wir in der hohen Zentralarktis noch nie gesehen. Die Biomasse, die Algen in den oberen Wasserschichten im untersuchten Gebiet produzieren, deckt weniger als ein Prozent des Kohlenstoffbedarfs der Schwämme. Dieser Schwammgarten mag also ein Ökosystem sein, das nur vorübergehend besteht, aber er ist reich an Arten und beheimatet sogar Weichkorallen», sagt Antje Boetius, Leiterin der Forschungsgruppe für Tiefseeökologie und -technologie am Max-Planck-Institut für Marine Mikrobiologie und Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts.
«Angesichts des schnellen Rückgangs der Meereisbedeckung und der sich verändernden Meeresumwelt ist es unerlässlich, solche Hotspot-Ökosysteme besser zu verstehen, um die einzigartige Vielfalt der unter Druck stehenden arktischen Meere zu schützen und zu verwalten“, fügt Antje Boetius abschließend hinzu.
Link zur Studie Biologische Diversität in den Weltmeeren: Cordier et al. (2022) Scie Adva, Patterns of eukaryotic diversity from the surface to the deep-ocean sediment. Science Advances, 2022; 8 (5) DOI: 10.1126/sciadv.abj9309
Link zur Studie Schwammgärten in der arktischen Tiefsee: Morganti, T.M., Slaby, B.M., de Kluijver, A. et al. Giant sponge grounds of Central Arctic seamounts are associated with extinct seep life. Nat Commun 13, 638 (2022). https://doi.org/10.1038/s41467-022-28129-7
Julia Hager, PolarJournal