Die MOSAiC-Expedition, die über ein Jahr lang im Arktischen Ozean unterwegs gewesen war, war ein bisschen wie Raumschiff Enterprise: Aufgebrochen, um unser Wissen über unbekannte Regionen zu erweitern. Und auf der Erde ist kaum etwas unbekannter als der zentrale Bereich des Arktischen Ozeans (CAO). Lange glaubte man, dass nur wenige Organismen in den eisigen dunklen Tiefen des CAO vorkommen. Doch ein Teil der Expedition untersuchte die Fische und andere Tiere in der Region und machte erstaunliche Entdeckungen.
Unter dem Packeis des Arktischen Ozean, nicht weit vom geographischen Nordpol entfernt, entdeckte die Forschungsgruppe der MOSAiC-Expedition, die sich mit dem Lebensraum und den Tieren unter dem Packeis beschäftigt hatte, eine reichhaltige Zooplankton-Gemeinschaft aus Krebstieren, Quallen und Rippenquallen in 100 bis 600 Metern Tiefe. Die Zone mit dem Plankton erstreckt sich gemäss den Resultaten der Arbeit über die gesamte untersuchte Strecke, immerhin 3’170 Kilometer. Diese Erkenntnisse, die das EFICA (European Fisheries Inventory of the Central Arctic)-Konsortium unter der Leitung von Professorin Pauline Snoeijs-Leijonmalm von der Universität Stockholm, sind per se eine grosse Überraschung.
Umso grösser war das Erstaunen der Forscherinnen und Forscher, als sie auf Videoaufnahmen (siehe unten) Kalmare entdeckten, die immer wieder ins Scheinwerferlicht der Unterwasserkamera schwammen. Den Jackpot aber knackte das Forschungsteam, als sie beim Einholen von Langleinen, die sie unter das Eis auslegten, um Fische zu fangen, einen Atlantischen Kabeljau am Haken hatten. Weitere Videoaufnahmen belegten das Vorkommen einzelner weiterer Individuen. Diese Fischart und auch die entdeckten Kalmare (Gonatus fabricii) gehören eigentlich nicht in den Arktischen Ozean, sondern in den Nordatlantik. Weitere Untersuchungen zeigten, dass die Fische sich in der Tiefseeschicht, die aus dem Nordatlantik in den zentralen Arktischen Ozean hineinfliesst, aufhalten, und zwar über mehrere Jahre. «Selbst wenn der Atlantische Kabeljau keinen eigenen zentralen arktischen Bestand hat, zeigt diese Untersuchung, dass er überleben kann», erklärt Professorin Snoeijs-Leijonmalm. Nach Angaben des Konsortiums ist die Nahrungsmenge in diesem Bereich des Ozeans gross genug, um einzelnen Tieren eine Lebensgrundlage zu verschaffen.
Die überraschenden Funde könnten noch ein weiteres Phänomen erklären: das Vorkommen von Robben und Eisbären nur wenige hundert Kilometer vom Nordpol entfernt, mitten auf dem arktischen Ozean. Bislang ging man davon aus, dass den beiden Meeressäugern in dem Bereich die Nahrungsgrundlage fehlt und sie sich dort kaum aufhalten. Doch Beobachtungen von Eisbären in den Gebieten, wie sie auf der Lauer vor Atemlöchern von Robben liegen, könnten einen Hinweis liefern, dass die Robben dort auf die Jagd nach den begehrten Raubfischen wie Atlantischem Kabeljau, Polardorsch und Leuchtsardinen gehen. Die Berichte sind zwar nicht häufig, wie Dr. Hauke Flores vom AWI, der an der Studie mitbeteiligt war, erklärt. Doch ignorieren kann man sie eben auch nicht.
Die Entdeckung dieser reichhaltigen Schicht im zentralen Arktischen Ozean hat nicht nur biologische Relevanz, sondern auch politische. Denn nach Angaben des EFICA-Konsortiums zeigen die Untersuchungsergebnisse der Forschenden, dass das Nahrungsnetz der Region zwar eine neue Ebene erhalten hat. Doch diese ist nicht produktiv genug, um wirtschaftlich nutzbare Fischbestände aufrecht zu erhalten. Auch der Klimawandel wird an dieser Tatsache nichts unmittelbar ändern, sind die Autoren der Studie, die in der Fachzeitschrift Science Advances erschienen ist, der Meinung. «Selbst wenn mit dem Wasserzufluss aus dem Atlantik mehr atlantische Fische und deren Beutetiere eingeschleppt würden, ist die Kapazität des Ökosystems der Zentralarktis, größere Fischbestände zu ernähren, zweifellos sehr begrenzt», erklärt Hauptautorin Pauline Snoeijs-Leijonmalm. Damit wäre ein erster wissenschaftlicher Schritt getan, um das seit dem 25. Juni 2021 in Kraft getretene Abkommen zur Verhinderung der unregulierten Hochseefischerei im zentralen Arktischen Ozean entsprechend zu festigen. Weitere Projekte, die Daten aus diesem Bereich der Arktis über die Fischbestände dort erheben sollen, werden gegenwärtig von den Partnern des Abkommens und auch von der EU gestartet. Das Abkommen gibt rund 16 Jahre Zeit, mehr über die scheinbar unendlichen Tiefen des Arktischen Ozeans und seiner Bewohner zu erfahren.
Beitragsbild: Screenshot Youtube Video SciTech Daily
Dr. Michael Wenger, PolarJournal
Link zur Studie: Snoeijs-Leijonmalm et al. (2022) Sci Avd 8 (7) Unexpected fish and squid in the central Arctic deep scattering layer