SCOTMAC – Jugend auf der Suche nach Konsens in Zeiten des Konflikts | Polarjournal
Bei SCOTMAC simulieren Studierende in Schottland den Arktisrat unter ähnlichen Bedingungen und lernen so die Zusammenhänge zwischen Politik. Umwelt, Natur und Gesellschaft in der Arktis besser zu verstehen. Bild: Gunnar Vigufsson / Isländisches Aussenministerium

Als ich in den 70er Jahren in einem kleinen Ort südlich der schottischen Stadt Glasgow aufwuchs, nannten wir eine Fahrt nach Oban einen Ausflug „in den Norden“. An diesem Wochenende schaut die Hafenstadt an der schottischen Westküste viel weiter nach Norden. Studierende nehmen dort an einer Simulation des Arktischen Rates teil. Mit SCOTMAC findet eine solche Veranstaltung zum ersten Mal im Norden Britanniens statt. Die Idee dahinter – junge Menschen, potentielle Entscheidungsträger*innen der Zukunft, für die Arktis zu interessieren und ihre Kenntnisse des hohen Nordens zu erweitern.

Die Scottish Association for Marine Sciences, SAMS, ist Gastgeberin. Das Institut gehört zur University of the Highlands and Islands, (UHI) die ihrerseits zu den Gründungsmitgliedern der Universität der Arktis, Uarctic, gehört. Schottland ist das am nördlichsten gelegene Land, das nicht zur Arktis gezählt wird. Die Regierung in Edinburgh, die die Unabhängkeit vom Vereinigten Königreich anstrebt, ist stark daran interessiert, die Verbindungen zu ihren arktischen Nachbarn auszubauen. Ein Großteil der Finanzierung für SCOTMAC kommt aus einem 2021 zu diesem Zweck eingerichteten Fonds: Arctic Connections Fund.

Die russische Invasion der Ukraine belastet Kooperation in der Arktis

Die Veranstaltung findet zu einem Zeitpunkt statt, an dem der Arktische Rat, das wichtigste Forum für internationale Kooperation zwischen den Arktisstaaten, vor allem im Umweltschutz und in der nachhaltigen Entwicklung, aufgrund der russischen Invasion der Ukraine seine Aktivitäten „pausiert“ hat. Seit Mai 2021 hat Russland den alle zwei Jahre rotierenden Vorsitz der Organisation inne. In einem gemeinsamen Statement haben die sieben anderen Mitgliedsstaaten – Kanada, Dänemark, Finnland, Island, Norwegen, Schweden und die USA – die Invasion verurteilt und alle Treffen des Rats und seiner Arbeitsgruppen auf unbestimmte Zeit abgesagt.

Vor diesem Hintergrund erlangt die Modellveranstaltung in Oban unerwartet eine zusätzliche Aktualität. Die Studenten versetzen sich in die Rollen der acht Mitgliedsstaaten und der sechs Indigenen Organisationen, die dem Rat als „Ständige Teilnehmer“ angehören. (Vier davon haben auch russische Mitglieder – eine ziemliche Herausforderung unter den jetzigen Umständen.)

Peter Sköld, Vorsitzender der UArctic, schrieb in einem Statement am 3. März, die russische Invasion bedrohe die Mission des auf Initiative des Arktischen Rats etablierten Zusammenschlußes der Hochschulen: das Zusammenleben und den Umweltschutz für alle Nordländer zu verbessern. UArctic werde die Entscheidung des Arktischen Rates, ihre Arbeit vorerst auszusetzen, respektieren und, wo angebracht, in der eigenen Organisation umsetzen.

UArctic habe eine besondere Verantwortung für Studierende und junge Forschende. Die Welt könne es sich nicht leisten, diese an Konflikt und Misstrauen zu verlieren.

Schwere Zeiten für das Sekretariat des Arktischen Rats im norwegischen Tromsö (Foto: I. Quaile)

SCOTMAC trotz alledem

Im Interesse dieser Studierenden findet die Veranstaltung in Oban unter der Leitung von SAMS-Dozenten Finlo Cottier und Anuschka Miller sowie Anthony Speca trotz dieser Entwicklungen statt. Speca unterrichtet an der Norwich School in England, sowie an der Trent University in Kanada. Er leitet außerdem das UArctic Læra Institute for Circumpolar Education sowie eine eigene Beratungsorganisation Polar Aspect. Ich fragte ihn, wie sich die russische Invasion auf die Veranstaltung auswirke:

„Es bleibt den Studenten überlassen, ob sie aktuelle Konflikte in ihren Treffen angehen”, sagte Speca. Der Arktische Rat behandele keine militärischen Themen. Dies gelte auch für die MAC-Treffen. Die Studierenden könnten allerdings die Ansicht vertreten, dass Umwelt und nachhaltige Entwicklung trotzdem zu den Angelegenheiten gehörten, bei denen Russland, der Westen und die Indigenen Völker weiter zusammenarbeiten könnten und sollten”.

Auf jeden Fall gibt es Raum für spannende Debatten.

Das Treffen selbst werde nicht von den Vertretern des aktuellen Vorsitzes – also Russland – geleitet, sondern von Speca und einem „Sekretariat“, das unter anderem aus ehemaligen Teilnehmenden der Modellveranstaltungen bestehe. Man werde auch jeden Abend das am Tag Erlebte gemeinsam analysieren.

Speca fehlt die Arktis

Die Arktis ist Specas Leidenschaft. Er arbeitete in der kanadischen Arktis, bevor er nach Großbritannien zog und seine englische Frau heiratete. Er empfinde eine Art „Nunavut-Loch“ in seinem Leben, sagt er. Die MAC-Treffen helfen ihm, zu kompensieren.

Die Arktis macht bekanntlich süchtig (Foto. I. Quaile)

Speca ist auch in Simulationen der Vereinten Nationen involviert. Diese seien inzwischen aber vor allem in Nordamerika sehr konkurrenzlastig geworden, findet er. Am Arktischen Rat reizt ihn die Notwendigkeit, einen Konsens zu erzielen. Ihm ist sehr daran gelegen, seinen Schülern und Studierenden Verhandlungsgeschick beizubringen, Möglichkeiten, Kompromisse und Konsens herbeizuführen.

Die Idee, den Arktischen Rat nachzuspielen, ist nicht neu. UArctic, beispielsweise, organisiert seit März 2016 solche Veranstaltungen. Die erste fand an der University of Alaska Fairbanks (UAF) während des US-Vorsitzes statt. Es ist geplant, alle zwei Jahre im Land des jeweiligen Vorsitzes ein Modelltreffen zu veranstalten. Die letzte, für Akureyri in Island, geplante Veranstaltung wurde allerdings aufgrund der Pandemie online veranstaltet. Die nächste soll dieses Jahr im Mai im russichen Arkhangelsk stattfinden. In der Zwischenzeit kam allerdings der Einmarsch in die Ukraine.

Schottlands Arktische Verbindungen

Schottland: ein nordische Nation im Meer (Foto. I. Quaile)

Schottische Hochschulen sind schon lange eng mit der arktischen Universität verbunden. Seit UHI 2001 zu den Gründungsmitgliedern des UArctic-Netzwerks gehörte, sind auch die Universitäten Aberdeen, Glasgow Caledonian, St Andrews, Strathclyde, Edinburgh, und Robert Gordon dazu gestoßen. Schottland bildet inzwischen die zweitgrößte nicht-arktische Gruppe innerhalb der Allianz. Das Land beherbergt sogar die größte Glaziologiegruppe (Scottish University Research in Glacial Environments) in Europa. Die starke Partnerschaft beruhe auf einem „tiefen Verständnis der Gemeinsamkeiten zwischen Schottland und der Arktis“, so UArctic.

Schottland hat 96 bewohnte Inseln, wo die Bevölkerung oft unter 10 liegt. Bis zu 98 Prozent der Landmasse gilt als ländlich geprägt, beheimatet aber lediglich ein Prozent der Bevölkerung. Die Bevölkerungsdichte gehört teilweise zu den niedrigsten Europas. Die vernetzten Universitäten wollen in der Aus- und Fortbildung zusammenarbeiten und Erkenntnisse teilen, um ihre Regionen lebenswert und zukunftsfähig zu machen, egal wie abgelegen die Gemeinden sein sollten. Im September 2019 veröffentlichte die schottische Regierung eine eigene Arktisstrategie.

Oban, Svalbard, SCOTMAC

Professor Finlo Cottier ist Ozeanologe in Oban. Zusammen mit einigen Kolleg*innen entwickelte er die „Arktiskomponente“, die am SAMS-Institut und seinen Partneruniversitäten der „Hochland und Inseln-Universität“ UHI „ein Teil der Identität“ darstellt. Meereswissenschaften mit Arktischen Studien heißt ein einzigartiger Studiengang, bei dem Studierende in Oban eine Arktische Spezialisierung vornehmen und einige Zeit in Svalbard, Spitzbergen studieren können.

Zusammen mit Arktisexperte Anthony Speca, der bereits an Schulen ähnliche Treffen veranstaltete, hatte er die Idee, den Arktischen Rat in Schottland simulieren zu lassen. Sie bewarben sich erfolgreich um Finanzierung durch die schottische Regierung und hoffen, das Projekt jedes Jahr an einer schottischen Universität zu wiederholen.

Von COP26 nach SCOTMAC?

32 Studierende nehmen als Delegierte teil. Die meisten haben keine Arktischen Vorkenntnisse, erklärt Cottier. Darunter sind Student*innen der Fächer Meereswissenschaften, Journalismus, Architektur oder Politik. Die Voraussetzungen sind Interesse und Begeisterungsfähigkeit.

Es haben sich viermal so viele junge Menschen beworben, wie Plätze vorhanden sind. Was motiviert junge Menschen, sich in ein Thema einzuarbeiten, dass in vielen Fällen mit ihren Studienfächern überhaupt nichts zu tun hat und ihre Freizeit für eine solche Veranstaltung einzusetzen? Anuschka Miller ist Biochemikerin und Kommunikationschefin bei SAMS. Sie findet das starke Interesse nicht überraschend. Junge Leute seien sehr stark an „Umweltdiplomatie“ interessiert, sagte sie mir. Das sei sehr aktuell. Die vielen jungen Menschen, die wegen der UN-Klimakonferenz COP26 Ende letzten Jahres in Glasgow anwesend waren, zeige das riesige Interesse an solchen Themen.

Viele von ihnen seien ohne vorbereitendes Training dort gelandet. Bei SCOTMAC können sie sehr viel lernen, ist Miller sicher. Man wolle unter anderem zukünftige Entscheidungsträger*innen aufbauen, ergänzt Speca.

Arktische Schifffahrt auf der Agenda in Schottland

Die Delegierten werden zwei Themen beraten, erstens, die Zunahme des Schiffsverkehrs in arktischen Gewässern. Da der Klimawandel die Nordpassagen eröffnet und die industriellen Aktivitäten zunehmen, ist dies eine wichtige Herausforderung für den Arktischen Rat im „echten“ Leben. Die Gastgeberhochschule ist auf Meereswissenschaften spezialisiert. Die Schifffahrt gehört zu den Themen, die in der schottischen Arktisstrategie angegangen werden. Ein ideales Thema, also für SCOTMAC.

Schifffahrt und die Fischerei sind zentrale Themen für die Arktis und für Schottland (Foto: I.Quaile, Svalbard)

Indigene Themen und das traditionelle Leben

Indigene Angelegenheiten haben ebenfalls eine Schlüsselposition auf der Agenda des Arktischen Rats. Die Weitergabe von Indigenen Erkenntnissen ist das zweite Thema in Oban.

„Es ist überraschend, wie viele Menschen glauben, die Arktis sei eine menschenleere Wildnis“, sagt Anthony Speca. Ich suche gerne Themen aus, bei den die Teilnehmenden die Arktis als Indigenes Heimatland kennenlernen, nicht als leere Wildnis oder internationale Schatzgrube für Ressourcen.“

An ländliche, traditionelle schottische Gemeinden habe er in erster Linie bei der Auswahl des Themas nicht gedacht, gibt Speca zu. Es gäbe aber tatsächlich eine zusätzliche Relevanz, da Indigenes Wissen oft zusammen mit traditionellem Wissen genannt werde – und da Schottland ein besonderes Interesse an der Entwicklung von teils isolierten ländlichen Gemeinschaften habe.

Hafen auf der Insel Orkney. (Foto. I. Quaile)

Wie schwer ist es für Student*innen in Schottland, in die Rolle Indigener Vertreter*innen – wie Sami zum Beispiel – zu schlüpfen? Eine gute Frage, meint Finlo Cottier. Für alle sei es eine große Herausforderung, die Rolle eines Menschen zu spielen, der einen ganz anderen Lebensstil und Hintergrund hat. Die Indigenen Gruppen können nicht so viele Informationsquellen anbieten, ergänzt Speca. Das macht es unter Umständen schwieriger, diese Vertreter*innen zu spielen. Allerdings bieten die Organisatoren ein Reichtum an Informationsquellen zur Vorbereitung des Treffens an. „Die harte Arbeit müssen sie aber selbst leisten“, sagt Speca und lächelt.

Junge Menschen hätten im Allgemeinen ein starkes Engagement für persönliche und soziale Gerechtigkeit, so der erfahrene Lehrer und ehemalige Regierungsberater. Gleichberechtigung für Indigene Völker errege meistens ihr Interesse sowie den Willen, die Welt besser und gerechter zu machen.

Den Trumps und Putins zum Trotz

Speca hat Anfang März an der Norwich Schule ein MAC durchgeführt

Es gab auch einen Zeitpunkt, wo das für die „Delegierten“ der USA zugetroffen hätte, erinnert sich Speca. Als Donald Trump Präsident war, gab es zum ersten Mal keine Schlusserklärung nach dem Außenministertreffen des Arktischen Rats im isländischen Rovaniemi.

Aber selbst das Nichtzustandekommen einer Vereinbarung sei lehrhaft, so Speca.

Manchmal erarbeiteten die jungen Delegierten eine Schlusserklärung, die nicht unbedingt politisch plausibel sei. Er erinnert sich an einen Sami-Vertreter, der eins der Modelltreffen beobachtete. Er wünschte, manche der Vorschläge der studentischen Delegierten könnten in der realen Welt umgesetzt werden, habe er der Gruppe gesagt.

„Die Idee ist, dass Studierende über schwierige Probleme lernen und ihre eigenen Gedanken und Verständnis einbringen“, so der Vorsitzende vor der Eröffnung des SCOTMAC-Treffens. „Ihre Schlussfolgerungen sind nicht immer diplomatisch, aber manchmal sehr lehrhaft,“ schmunzelte er. Während die Arbeit des Arktischen Rats in der Realität „auf Eis“ liegt und die internen Differenzen vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine einen Höhepunkt erreicht haben, könnten wir vielleicht mehr von der jugendhaften Begeisterung, des kreativen Querdenkens und des Konsenswillens gebrauchen, die in diesen Tagen in Oban kursieren.

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