Parmjit Singh Sehra – Mit Raketen zu Indiens Antarktisprogramm | Polarjournal
Im Rahmen seiner Dissertation verbrachte Dr. Singh Sehra insgesamt 18 Monate in Antarktika und unternahm gemeinsam mit sowjetischen Forschern eine Umrundung des Kontinents und überwinterte als erster Inder in der Station Molodezhnaya. Bild: mit freundlicher Genehmigung von Dr. Singh Sehra

Indien in Antarktika scheint auf den ersten Blick ein ungleiches Paar zu sein. Doch das asiatische Land betreibt schon seit 1981 ein ausgeprägtes Forschungsprogramm und betreibt mittlerweile 2 aktive Stationen und eine Unterstützungsbasis auf dem antarktischen Kontinent. Geht man aber noch etwas weiter zurück in der Geschichte, entdeckt man, dass der zündende Funke für das indische Forschungsprogramm bereits acht Jahre zuvor entstand und zwar im Kopf eines jungen Meteorologen, der als erster Inder Antarktika umrundete und dort überwinterte: Dr. Parmjit Singh Sehra.

Am Anfang der Geschichte des indischen Antarktisprogrammes steht nicht der Wunsch nach territorialer Expansion für das Vaterland oder der persönliche Wunsch, irgendwo der erste zu sein, sondern der Traum, ins Weltall zu fliegen. Diesen Traum hegte der indische Wissenschaftler Vikram A. Sarabhai, der heute als Gründer des indischen Raumfahrtprogrammes gilt. Zu Beginn der 1970er Jahre wollte er sowjetischen Forschern in Antarktika über die Schultern schauen lassen, wenn sie Forschungsraketen von dort in die Atmosphäre schiessen, um meteorologische Daten zu erheben. Deshalb suchte er einen jungen, aufstrebenden Doktoranden aus, der sich an den für einen Inder wohl exotischsten Ort begeben sollte. Die Wahl fiel auf Parmjit Singh Sehra, der am Physikalischen Forschungslabor der Universität Gujarat in Ahmedabad seine Dissertation schrieb. Gerade einmal 23-jährig, hatte der junge Wissenschaftler keine wirkliche Ahnung, worauf er sich einlassen würde. «Ich hatte einen Artikel in der Zeitung über den sowjetischen Versuch, Daten über die Eiskappe am Südpol zu sammeln, gelesen und träumte davon, einmal Antarktika zu umrunden und selbst am Südpol zu stehen», erinnert sich Dr. Singh Sehra. Sein Traum sollte schneller Realität werden, als er selbst geglaubt hatte.

Zu den ersten Dingen, die man in der Antarktis sieht, gehören Eisberge. Diese gigantischen Gebilde beeindruckten auch Parmijt Singh Sehra so sehr, dass er sich einmal sogar in Lebensgefahr begab, um einen Eisberg zu erforschen. Bild: Michael Wenger

Der Zeitpunkt für die Zusammenarbeit war 1971 einerseits günstig, denn die Sowjetunion hatte eine zweijährige Forschungsexpedition geplant, die Antarktika umrunden sollte. Ausserdem war man dabei, neue Modelle von Forschungsraketen für die Erhebung meteorologischer Daten zu testen.  Und die Sowjets waren den Indern dank der weltpolitischen Situation freundlich gesinnt und es bestand ein reger Austausch auf vielen Ebenen. Doch andererseits befand sich Indien (wieder einmal) im Konflikt mit Pakistan und die Situation im Land war angespannt (und entlud sich im Dezember 1971 zu einem ausgewachsenen Krieg). Daher war es für den jungen Doktoranden schwierig, geeignetes Material für eine Antarktisexpedition innert kürzester Zeit zu erhalten.

«Es ist tatsächlich ein Märchenland, in dem sich aber sogar die Märchenfiguren nicht trauen, zu leben.»

Dr. Parmjit Singh Sehra, „A Visit to the South Pole“

Indien hatte zu diesem Zeitpunkt keine Ambitionen an der eisigen Welt. Trotzdem gelang es Parmjit Singh Sehra, mit Zustimmung seiner Eltern und der Universität, rechtzeitig in Australien an Bord des russischen Forschungsschiffes Akademik Viese zu sein und zum ersten Punkt seiner 18-monatigen Expedition, der Station Mirny in Antarktika, zu reisen. Den ersten Eindruck, den der junge Meteorologie- und Atmosphärenforscher aus Indien erhielt, war überwältigend. Fasziniert von den zahlreichen Eisbergen notierte er in seinem Tagebuch, das er später unter dem Titel «A Visit to the South Pole» veröffentlichte: «Es ist tatsächlich ein Märchenland, in dem sich aber sogar die Märchenfiguren nicht trauen, zu leben.» Auch der Seegang schien ihm nichts anhaben zu können. Er genoss die Fahrt durch den Südlichen Ozean und konzentrierte sich auf seine ersten Forschungsarbeiten.

Nach seiner Ankunft in Mirny verbrachte er die nächsten 18 Monate in der packenden Welt Antarktikas. Er unternahm mit den sowjetischen Kollegen eine Expedition zum geographischen Südpol und begleitete eine schwierige 1’500 Kilometer lande Versorgungsfahrt mit Traktoren und Hundeschlitten zur Station Vostok. An Bord des Versorgungseisbrechers Navarin war er der erste Inder, der Antarktika umrundete. Dabei besuchten sie nicht nur die sowjetischen Stationen für deren Versorgung, sondern auch diejenigen von anderen Ländern. Dadurch konnte Parmjit Singh Sehra wertvolle Daten sammeln und Kontakte knüpfen. Seine Umrundung endete an der damaligen Hauptstation Molodezhnaya in der Ostantarktis, wo er dann insgesamt ein ganzes Jahr verbrachte. Auch hier konnte er, wie in der gesamten vorherigen Zeit, seine Forschungsarbeiten durchführen und zahlreiche wichtige Datensätze sammeln. Mit den sowjetischen Kollegen schoss Singh Sehra 60 Raketen in die Atmosphäre und konnte unter anderem zum ersten Mal zeigen, dass ungewöhnliche Erwärmungen im antarktischen Winter mit vertikalen Flüssen geothermaler Energie von unten nach oben und durch radioaktive und photochemische Prozesse in der oberen Atmosphäre zusammenhängen.  Diese brachten ihm nicht nur seinen Doktortitel, sondern auch internationale Anerkennung als Meteorologe und Atmosphärenphysiker und auch als Experte bei der WMO und der NASA ein.

Die sowjetische (heute russische) Antarktisstation Molodezhnaya liegt am Rand der Ostantarktis und wurde 1962 eröffnet. Hier unternahm man auch Versuche mit Raketen für die Erforschung der Atmosphäre über Antarktika. Einst ganzjährig betrieben, ist sie heute nur noch im Sommer offen. Bild: mit freundlicher Genehmigung von Parmijt Singh Sehra

Während seiner Arbeit in Antarktika lernte Parmjit Singh Sehra nicht nur die schönen und magischen Seiten Antarktikas kennen, sondern wurde auch mit Überlebenskampf, Depression, Hunger und Tod konfrontiert. Während der Versorgungsfahrt zur Station Vostok beispielsweise verlor das Team zwei Mitglieder durch Krankheit und Unfall und die Schlittenhunde mussten aufgrund grosser Erschöpfung getötet werden und das Fleisch gegessen werden, da ansonsten nicht genügend Nahrung zur Verfügung gestanden hätte. Singh Sehra selber erlebte die Gefährlichkeit der Antarktis am eigenen Leib, als er in eine Gletscherspalte gefallen war und nur dank der schnellen Hilfe seiner Kollegen gerettet werden konnte; ein anderes Mal fiel er von einem 200 Meter hohen Felsrücken und verlor dabei «nur» ein paar Zähne und brach sich sein Bein. Sein schlimmstes Erlebnis war jedoch eine eigene Expedition, die er zu einem Eisberg in der Nähe der Station unternahm. Ein einsetzender Schneesturm und ungenügende Mengen an Vorräten liessen ihn beinahe verhungern. Auch die Lichtverhältnisse, besonders die Polarnacht, machten dem Wissenschaftler zu schaffen. Er schrieb in sein Tagebuch: «ich muss sagen, dass sechs Monate kontinuierlicher Dunkelheit, gefolgt von sechs Monaten ständigem Tageslicht am Südpol ein extrem langweiliges Naturphänomen ist.» Später erklärte er, dass er sehr dankbar sei für den 12 Stunden-Tagesrhythmus in Indien.

Als Wissenschaftler erhielt Dr. Singh Sehra zwar einen respektablen internationalen Ruf. Doch die Anerkennung seiner Leistungen für das indische Antarktisprogramm ging in der Geschichte unter. Heute lebt er mit seiner Familie in der indischen Region Punjab. Bilder: mit freundlicher Genehmigung von Parmjit Sing Sehra

Die Zeit in Antarktika machte aus dem jungen Meteorologen Parmjit Singh Sehra einen Antarktisenthusiasten. Er erkannte die Wichtigkeit des südlichen Kontinents in Fragen der Meteorologie und der Atmosphärenphysik und träumte davon, dass sein Land zu einem Mitglied der Forschungsgemeinschaft in Antarktika werden würde. Dazu schickte er am 25. Jahrestag der indischen Unabhängigkeit einen Brief vom Südpol nach Neu-Delhi direkt an die damalige Premierministerin Indira Gandhi und schlug vor, dass Indien den Antarktisvertrag unterschreiben, Expeditionen nach Antarktika starten und auch Forschungsstationen eröffnen und ein Antarktisforschungsprogramm ARPI betreiben sollte. Diese Nachricht, die am 15. August 1972, nach Neu-Delhi geschickt worden war, sieht Dr. Parmjit Singh Sehra selbst als die Geburtsstunde des indischen Antarktisprogrammes. Doch es dauerte nochmals 9 Jahre bis die erste indische Antarktisexpedition schliesslich startete. Den Ruhm dafür ging an andere indische Wissenschaftler und auch die erste Überwinterung eines einzelnen Inders in Antarktika ging in der Geschichte unter. Denn derjenige, der den jungen Forscher ausgewählt und losgeschickt hatte, starb überraschend kurz nach dem Beginn von Singh Sehra’s Expedition und damit auch sein Traum.

«Wir Menschen lieben es zu träumen. (…) Mein grösster Traum ist wahr geworden.»

Dr. Parmjit Singh Sehra

Angesprochen darauf, ob er sich nicht ausgeschlossen und vergessen von der Geschichte fühlt, erklärt Dr. Parmjit Singh Sehra» «Wir Menschen lieben es zu träumen. Und ich träumte davon, eine indische Forschungsstation zu eröffnen. Ich dachte damals nicht, dass die Quelle meines Traumes nicht mehr in dieser Welt leben würde. Doch meine Antarktiserfahrungen zündeten ein grosses Interesse in Indien zur weiteren Erforschung in Antarktika inklusive der Eröffnungen indischer Forschungsstationen und regelmässiger Expeditionen seit 1982. Das ist für mich eine sehr grosse Belohnung. Mein grösster Traum ist wahr geworden ist.»

Widmung von Dr. Parmjit Singh Sehra:
Ich widme mein ganzes Leben und Werk meinen Eltern, Mrs. Satwinder Kaur (Mutter, Sarpanch, VPO Bhana, Hoshiarpur), Mr. Mohinder Singh Sehra (Vater, Postmeister der Regierung von Indien), Mr. Bir Singh Sehra ( Großvater, Kleinbauer) und danke meiner Familie (Ehefrau Dr. Bhupinder Sehra, Gynäkologin), Sohn Er. Gaurav Singh Sehra, Ingenieur), Tochter Dr. Pamela Sehra, Zahnärztin), und allen anderen, die mir in meinem Leben und Wirken direkt oder indirekt geholfen haben! Lasst überall für immer Wohlwollen und Frieden sein!

Dr. Michael Wenger, PolarJournal

Link zur PhD-Arbeit von Dr. Parmit Singh Sehra: Atmospheric structure exploration over antarctica and interhemispheric comparison

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