Das war jetzt wieder mal eine knifflige Situation. Nicht, dass sich James Weddell knifflige Situationen nicht gewohnt gewesen wäre, im Gegenteil: Als Kapitän eines Robbenfängerschiffes in den noch weitgehend unerforschten Gebieten der Antarktis gehörte es für ihn zur Tagesordnung, unbekannte Situationen richtig einzuschätzen und entsprechend zu reagieren. Zum Beispiel das Navigieren bei Schneesturm zwischen treibenden Eisbergen.
Aber jetzt war weit und breit kein Eisberg in Sicht. Keinerlei Gefahr im Anzug. Nur das weite, offene Meer und eine frische Brise aus Süden. Genau das aber machte die Situation so knifflig. Denn noch nie war ein Mensch so weit nach Süden vorgedrungen wie James Weddell.
Was also tun? Weitersegeln oder umkehren? Es war der Morgen des 20. Februars 1823, die Brigg «Jane» und der Kutter «Beaufoy» befanden sich auf 74 Grad und 15 Minuten südlicher Breite, und der Kapitän musste eine Entscheidung fällen.
Schon früh auf See
James Weddell hätte sich wohl nie träumen lassen, dass er dereinst in eine Situation wie diese geraten würde. Er wurde am 24. August 1787 im belgischen Ostende als zweites von zwei Kindern geboren, seine Familie zog aber bald nach London. Der Vater, ein Polsterer, starb früh. Die Familie verarmte, weshalb sich James’ Bruder Charles zur Royal Navy meldete, um das Familieneinkommen zu verbessern. James schloss sich ihm für ein halbes Jahr an und sammelte auf der «Swan» erste Seemannserfahrung, da war er gerade mal neun Jahre alt und hatte bisher noch keinerlei Schulbildung genossen.
Trotzdem absolvierte James eine Kaufmannslehre und heuerte auf einem Handelsschiff an, das zwischen London und den Westindischen Inseln verkehrte. Er zerstritt sich aber mit seinem Kapitän, weshalb dieser ihn wegen Meuterei festsetzte und ihn 1805 als Gefangenen in Jamaika den dort stationierten englischen Soldaten übergab. Es ist anzunehmen, dass diese ihm die Wahl liessen: Knast oder Navy. James kam zur Navy, war am einen und anderen Seegefecht gegen Schiffe Napoleons beteiligt, wechselte dann aber 1814 wieder in die zivile Handelsschifffahrt.
Neue Geschäftsidee
Einer Zufallsbekanntschaft ist es zu verdanken, dass sich das Ziel seiner Handelsreisen bald in den tiefen Süden verschob: 1819 lernte er James Strachan, einen Schiffszimmerer aus dem schottischen Leith, und den Londoner Broker James Mitchell kennen, die gemeinsam das zwei-mastige Segelschiff «Jane» besassen. Die drei wurden sich einig, dass Weddell mit der «Jane» in die Antarktis fährt, denn dafür gab es zwei gute Gründe: erstens die Erfahrung in antarktischen Gewässern, die Weddell mit der Navy gemacht hatte. Und viel wichtiger: die Kunde neuer Jagdgründe für die äusserst lukrative Robbenjagd.
Denn seit der legendäre Entdecker James Cook nach seiner zweiten Reise 50 Jahre zuvor von unerschöpflichen Robbenbeständen auf Südgeorgien berichtet hatte, war die Robbenjagd zu einem regelrechten Industriezweig geworden: Das aus dem Robbenfett gewonnene Öl hielt als Brennstoff den englischen Wirtschaftsmotor am Brummen und spendete zu Hause Licht, wenn es dunkel wurde. Zudem konnten die Felle teuer verkauft werden, die Amerikaner hatten sogar einen Handel bis nach China aufgebaut. Preis pro Fell damals: 6 Dollar (heutiger Gegenwert: ca. US$ 100).
1819 entdeckte schliesslich der englische Seefahrer William Smith eine neue Insel, gab ihr den Namen Süd-Shetland und berichtete erneut von riesigen Robbenkolonien. Diese Nachricht befeuerte den Enthusiasmus der Jäger und Händler: Als Kapitän James Weddell im selben Jahr zu seiner ersten Antarktisreise aufbrach und in Falkland überwinterte, lagen dort bereits 50 weitere Robbenfänger-Schiffe vor Anker.
Noch lohnt es sich
Doch zu diesem Zeitpunkt war das Ende der Robbenjagd bereits abzusehen: Falkland war bereits robbenleer, die Bestände in Südgeorgien waren stark dezimiert. Die Entdeckung der Süd-Shetlands verlieh der Robbenjagd nun einen neuen Schub.
Kapitän James Weddell bemerkte in seinen Reiseaufzeichnungen: «Jetzt sind diese Tiere fast ausgerottet; aber glaubwürdige Personen haben mir versichert, dass seit dem Jahre, wo sie in so grosser Menge vorhanden waren, nicht weniger als 20’000 Tonnen See-Elefanten-Tran auf den Londoner Markt geschafft worden ist.» Eine weitere Zahl alleine zur Insel Südgeorgien liefert er uns einige Abschnitte später: «Die Menge der Häute, die teils wir, teils Fremde aus Georgien schafften, kann auf nicht weniger als auf 1’200’000 angeschlagen werden.»
Noch aber ist das Geschäft mit Robbenfell und Robbenfett ein lukratives: Erwartungsgemäss war auch die «Jane» mit Tausenden von Robbenfellen beladen, als sie im Januar 1820 wieder in den Londoner Heimathafen einlief.
Die Ladung warf so viel Gewinn ab, dass sich die anderen beiden James, Strachan und Mitchell, davon ein zweites Schiff kauften und Weddell mit Verstärkung erneut in die Antarktis schickten. Die Beute diesmal: zwei Schiffsladungen Robbenfelle und wiederum ein satter Gewinn.
Auch für diese Jagdsaison notiert Weddell in seinem Reisebericht einige Zahlen: «Die Menge von Robben, die von Schiffen aus verschiedenen Ländern 1821 und 1822 geholt wurde, kann auf 320’000 berechnet werden, und die Menge des See-Elefanten-Trans auf 940 Tonnen.» In Süd-Shetland seien die Robben inzwischen «förmlich ausgerottet». Er schätzt, dass in dieser Saison 2’000 bis 3’000 Matrosen alleine mit der Jagd auf Südgeorgien beschäftigt waren.
Als James Weddell im September 1822 zu seiner dritten Antarktisreise aufbrach, erteilten ihm Strachan und Mitchell einen zusätzlichen Auftrag: Such nach neuem Land! Am liebsten mit viel Robben drauf! Das Schiff wurde dazu mit gleich drei der neusten Chronometer und einem Azimut zur damals exaktesten möglichen Standortbestimmung ausgerüstet. Desweiteren ergänzten Kompasse, Barometer, zwei Thermometer und das neuste Kartenmaterial die Ausrüstung. Das war im Vergleich zu einem offiziellen Forschungsschiff wenig, aber für ein Robbenjägerschiff sehr viel.
Unbekanntes Land
Die Antarktis war um diese Zeit ein grosser weisser Flecken auf der Landkarte: Terra australis incognita. Erst in 77 Jahren würde der erste Mensch offiziell den Kontinent betreten.
Im Jahr 1822 kannte man erst einige der Antarktischen Halbinsel vorgelagerten Inseln wie Südgeorgien, die Sandwich-Insel und neuerdings die Süd-Shetland-Insel. Die Existenz der sagenumwobenen Aurora-Insel war noch nicht bewiesen (heute weiss man: Es gibt sie nicht). Aber niemand wusste, was weiter südlich lag. War der Südpol ein warmes Meer? Oder ein kaltes Land? Existierte dort überhaupt ein Kontinent? Lebten dort Menschen? Und woher kam das viele Eis um Südgeorgien? Auf diese Fragen hatte bisher noch niemand Antworten gefunden. (Zwar hatten der russische Kapitän Fabian von Bellingshausen, der britische Kapitän Edward Bransfield, Nathaniel Palmer (ein US-amerikanischer Robbenjäger) und auch der britische Robbenfänger John Davis bereits 1820 und 1821 einen Bereich Antarktikas entdeckt und beschrieben. Doch hochoffiziell waren diese Berichte 1822 noch nicht anerkannt.)
Einzig James Cook, der auf seiner zweiten Reise (1772 bis 1775) bis auf 71 Grad und 10 Minuten südlicher Breite gefahren war und somit immer noch den Süd-Rekord hielt, lieferte in seinem Reisebericht eine Vermutung. Er hatte geschrieben: «Das Risiko, das der eingeht, welcher eine Küste in diesem unbekannten und vereisten Meer erforschen will, ist so gross, dass ich mich erdreisten könnte zu sagen: Niemand wird sich jemals weiter vorwagen, denn ich getan habe, und dass jene Länder, welche im Süden liegen mögen, niemals erforscht werden.» Kein Wunder, hatte sich zumindest das wissenschaftliche Interesse an weiteren Erkundungsfahrten in den tiefen Süden von da an in sehr engen Grenzen gehalten. Entsprechend waren Seekarten, falls denn welche existierten, ungenau und die Navigationsinstrumente relativ unpräzise. Segeln in antarktischen Gewässern war eine Art Glücksspiel. In den Jahren 1820 bis 1822 zerschellten alleine an den Küsten Süd-Shetlands sechs Segelschiffe.
Neuer Rekord!
James Weddell erkundete gewissenhaft die Küsten der Süd-Orkney-Inseln, zog weiter nach Osten in Richtung Sandwich-Inseln, fand aber kein neues Land und befahl schliesslich Kurs Süd. Er versprach jedem Matrosen eine satte Belohnung von 10 Pfund, wenn er neues Land entdeckt – was zu einigen Fehlalarmen führte. Aber wie sollten die Späher im Mastkorb einen mit Sand bedeckten Eisberg von einer echten Insel unterscheiden, wenn niemand wusste, ob es hier überhaupt Inseln gab und wie die aussahen? Einmal erwies sich eine mutmassliche Insel sogar als toter Wal. Das Überprüfen der Landmeldungen war aufwendig, das Navigieren durch den dichten Eisgürtel zuweilen gefährlich.
Doch dann geschah etwas Seltsames: Am 16. Februar 1823 passierten die beiden Schiffe «Jane» und «Beaufoy» den 70. Südlichen Breitengrad, und die Mannschaften staunten: Eisberge und Treibeis wurden immer weniger, das Meer war offen bei mässigem Westwind, und «das Wetter wurde sehr angenehm», wie Weddell später schrieb. Am 18. Februar sah Weddell «nicht ein einziges Stückchen» Eis und stellte nach mehrmaligem Messen eine Position von 72 Grad und 38 Minuten südlicher Breite fest – somit hatte er den Süd-Rekord von James Cook überboten. Jede Seemeile, die er jetzt noch weiter Richtung Süden fahren würde, war Neuland beziehungsweise Neusee für die Menschheit.
Am 20. Februar befanden sich die Schiffe schliesslich auf der Position von 74 Grad und 15 Minuten südlicher Breite. Das Meer war immer noch eisfrei und ruhig, doch es kam ein zunehmend starker Wind von Süden auf. Weddell war 240 Seemeilen beziehungsweise 444 Kilometer weiter nach Süden gesegelt als James Cook. Er befand sich 2’200 Kilometer von Südgeorgien entfernt.
Aber was jetzt? Weddell hatte ja keine Ahnung, was weiter südlich kommen würde. Aber er wusste, dass der aufkommende Südwind ihm die Weiterreise Richtung Südpol erschweren, in umgekehrter Richtung aber die Rückfahrt enorm begünstigen würde. Und aus Erfahrung wusste er, dass aufkommende Winde in der Antarktis schnell in heftige Stürme ausarten können. Sollte er sich und seine Mannschaft also in eine vermeidbare Gefahr begeben? Und überhaupt: Die Tage waren schon merklich kürzer geworden. Die Matrosen waren müde und zeigten wenig Entdeckergeist, sie waren schliesslich Robbenjäger und ihr Lohn war abhängig von der Menge der gemachten Beute. Bereits waren in der Mannschaft erste Anzeichen von Skorbut aufgetreten. Und die Lebensmittel wurden langsam, aber sicher knapp.
James Weddell entschied sich zur Umkehr, liess die Kanone abfeuern, seine Mannschaft dreimal «Hurra» rufen, eine Extraportion Grog austeilen und befahl Kurs Nord. Doch er bereute seinen Entscheid einige Tage später, als die Schiffe wieder in sicheren Gewässern waren: Der Südwind hatte sich nicht zum Sturm entwickelt. Er gab dem neu entdeckten Meer den Namen König-George-IV.-Meer.
Heute weiss man: Wäre Weddell nur 170 Seemeilen beziehungsweise 315 Kilometer weiter gesegelt, hätte er als erster Mensch das echte antarktische Festland gesehen. Das wäre eine Seereise von zwei Tagen gewesen. Aber es steht in den Sternen, ob die Mannschaft dann auch wieder heil nach Hause gekommen wäre.
Zeit für Spekulationen
Weddell kehrte zurück zu den Falkland-Inseln und richtete sich dort für eine Überwinterung ein. Nun hatte er genügend Zeit, seine unterwegs gemachten Beobachtungen nochmal zu überdenken und einige Schlüsse daraus zu ziehen. Er kam zu folgenden Ergebnissen:
Vermutung 1: Die Kälte der Antarktis, insbesondere im Eisgürtel zwischen dem 60. und 61. südlichen Breitengrad, stammt «unstreitig» von den Süd-Shetland-Inseln.
Vermutung 2: Das Eis, das auf dem Meer treibt, entsteht in seichten Buchten von Inseln und treibt anschliessend aufs offene Meer. Damit widerspricht Weddell dem grossen Vorbild James Cook, der zwar diese Meinung ebenfalls vertrat, sie später aber widerrief.
Vermutung 3: Das Eis, das auf dem Meer treibt, stammt nicht vom Südpol. Weil nämlich das Meer, das er besegelt hatte, eisfrei war.
Vermutung 4: Daraus lässt sich folgern: Der Zugang zum Südpol, wie immer der aussehen mag, ist eisfrei.
Vermutung 5: Weil auf dem von ihm befahrenen Meer kein Eis treibt, entstehen am Himmel auch keine Südlichter (Aurora australis).
Kein Ruhm, keine Ehre
Im folgenden Frühling stach die «Jane» noch einmal Richtung Süden zur Robbenjagd auf und kehrte am 9. Juli 1824 mit reicher Beute nach London zurück. Weddells Partner Strachan und Mitchell, die anderen beiden James, ermunterten ihn, seine so unverhoffte wie grossartige Pionierleistung in einem Reisebericht bekannt zu machen.
Sonderbarerweise stiess Weddells Büchlein «Reise nach dem Südpol in den Jahren 1822 bis 1824» auf so gut wie gar kein öffentliches Interesse. Denn wenn der grosse James Cook gesagt hatte, dass niemand je weiter nach Süden segeln würde als er, wie hatte Weddell das denn bewerkstelligen können? Und war seine Geschichte vom eisfreien Meer überhaupt glaubwürdig? Zudem waren die Wissenschaftler Englands gerade sehr beschäftigt mit Expeditionen in den Norden und hatten wenig Interesse an den Jagdgründen der einfachen Robbenjäger.
Auch die an Langeweile grenzende Sachlichkeit, mit der Weddell seinen Reisebericht verfasst hatte, vermochte die edlen Herren nicht zu überzeugen. Frei vom üblichen Pathos der Entdeckerberichte erwähnt Weddell immer wieder ausführlich Wind und Wetter, Wellengang und Schiffsposition und verzichtet auf jede Art von Heldenhaftigkeit, im Gegenteil: In seinem Buch beschreibt er ganz sachlich seine Gründe zur Umkehr. Und statt an dieser Stelle in Jubel auszubrechen über seine Heldentat, lobt er die «auffallende Genauigkeit» seiner drei Chronometer, die zusammen 240 Pfund gekostet haben. «Eine solche Vollkommenheit in dieser höchst nützlichen Maschine können Befehlshaber der Schiffe nicht genug schätzen.»
Weddell und viele Matrosen seiner Mannschaft bezeugten unter Eid, dass kein Wort aus dem Buch gelogen sei – vergebens. Schliesslich machte Weddell der britischen Admiralität das Angebot, quasi als Beweisführung seine Reise zu wiederholen, falls diese das Unternehmen finanziere. Es wurde abgelehnt.
Totalverlust
James Weddell wandte sich wieder der Handelsschifffahrt im Atlantik und nach Tasmanien zu, weil die Robbenbestände in der Antarktis inzwischen dermassen dezimiert waren, dass sich eine Beutefahrt kaum mehr lohnte. 1829 musste die «Jane» wegen eines Lecks auf den Azoren ausgemustert werden.
Auf der Weiterfahrt Richtung London zerschellte das Ersatzschiff auf der Insel Pico, Weddell überlebte nur, weil er sich an einen Felsen klammern konnte.
Der Verlust der «Jane» bedeutete für Weddell den finanziellen Ruin. Er liess sich bis 1834 als Kapitän in Lohn und Brot anheuern und starb am 9. September 1834 in London im Alter von 47 Jahren, Todesursache unbekannt. Er galt zeitlebens als sehr guter Kapitän und enthusiastischer Führer. Von einer Ehefrau und Kindern ist nichts überliefert.
Nachhall
James Weddells Süd-Rekord wurde erst 1841, also 18 Jahre später, von James Clark Ross gebrochen, allerdings auf der anderen Seite der Antarktis, im heutigen Rossmeer. 1900 wurde das König-George-IV.-Meer zu Ehren unseres Helden in Weddell-Meer umbenannt. Auch die nur in der Antarktis lebende Weddell-Robbe ist nach ihm benannt.
Erst 88 Jahre später, 1911, drang der Deutsche Wilhelm Filchner im Weddell-Meer weiter nach Süden vor als James Weddell. Die Route, die James Weddell gefahren war, ist seit den Aufzeichnungen bis heute sogar für Eisbrecher unpassierbar: In dieser Gegend liegt sehr viel sehr langsam sich bewegendes Treib- und Packeis.
Weddell hatte 1823 das ausserordentliche Glück gehabt, ein eisfreies Jahr zu erwischen.
Autor: Christian Hug