Grönländisches Elfenbein wurde früher bis Kiew gehandelt | Polarjournal
Früher bis beinahe zur Ausrottung gejagt, können es sich Walrosse in Grönland nur im Nationalpark gemütlich machen. Die Jagd auf die massiven Robben ist in Grönland immer noch erlaubt, notabene als Quotenjagd. Bild: Michael Wenger

Im Mittelalter machten die Nordmänner aus Skandinavien, Island und Grönland nicht nur die Küstengebiete raubend und brandschatzend unsicher. Vielmehr waren sie geschickte, wenn auch kriegerische Händler. Ein Handelsgut, dass praktisch nur von ihnen erworben werden konnte, war das kostbare Walrosselfenbein und Walrossknochen, die u.a. aus Grönland und Island stammten. Ein überraschender Fund in Kiew zeigt nun, dass diese Waren es einst bis in die ferne Ukraine als Handelsgut geschafft hatten.

Archäologen hatten im Schlick und Sand des Dnjepr-Ufers, dem Fluss durch Kiew, neun massive Schädelteile und Schnitzereien von Walrossen entdeckt, neben weiteren zahlreichen Artefakten. Eine DNA-Analyse der Knochen zeigte, dass es sich dabei mehrheitlich um Walrosse aus dem westlichen Atlantik handelte, genauer aus dem Westen Grönlands und der kanadischen Arktis. Eine Datierung der umliegenden Schichten des Fundortes datierte sie auf das 12.Jahrhundert und eine genauere Betrachtung der Schnitzereien und der Schnitte liessen skandinavische Ursprünge erkennen. Alles in allem kommt das Forschungsteam um James Barrett von der Norwegischen Universität für Wissenschaft und Technologie NTNU und Natalia Khamaiko von der Ukrainischen Akademie der Wissenschaft zum Schluss, dass die Funde auf ein interkontinentales Handelsnetz grönländischer Nordmänner deuten, welches bis nach Kiew und noch weiter nach Russland und Asien gereicht haben muss.

Für die beiden Archäologen, die für die in der Fachzeitschrift Proceedings of the Royal Society B veröffentlichte Studie verantwortlich sind, sind die Funde überraschend und spannend. Denn bis anhin war man davon ausgegangen, dass der Handel nur regional stattgefunden hatte. «Osteuropäische Funde stammten bisher von osteuropäischen Walrossen», erklärt James Barrett. Dabei spielte das russische Novgorod eine wichtige Rolle, wo ein grosses Zentrum für Walrossschnitzereien in Osteuropa lag. Daher dachte man, dass Walrosse aus Grönland, dem östlichen Kanada und Island für den skandinavisch-westeuropäischen Markt verwendet worden waren. Umso grösser war die Überraschung, als Khamaiko und ihr Team neben den Walrossteilen auch Teile von Spielfiguren des bei Nordmännern und Wikingern beliebten hnefatafl entdeckten. «Die Teile schauten genauso aus wie diejenigen, die man in Skandinavien gefunden hatte», sagt Natalia Khamaiko. Damit zeigt sich, dass der Bedarf an den begehrten Walrossmaterialien viel weiter ging als nur bis ins mittelalterliche Europa.

Die Handelswege für grönländisch/kanadisches und isländisches Walross war weitverzweigt und ging über zahlreiche Stationen bis nach Kiew und von dort in die islamische und asiatische Welt. Karte: Barrett et al (2022)

Gegenstände aus Walrosselfenbein war im frühen Mittelalter hochbegehrt, sowohl bei der reichen Oberschicht wie auch den Kirchen. Besonders in der islamischen Welt wurde das Material für Schwert- und Dolchgriffe, aber auch Spielfiguren und religiöse Ziergegenstände verwendet. Und da die Wikinger und Nordmänner (Wikinger in Island und Grönland werden als Nordmänner bezeichnet) auf Silber und andere wertvolle Metalle standen, waren für beide Seiten Handelsbeziehungen eine Win-WIn-Situation. Die Walrosse auf der anderen Seite waren die Verlierer in der Beziehung. Denn ihre Population in Island, so vermutet James Barrett, wurde bereits kurz nach der Ankunft der Wikinger dort im Jahre 870 so stark dezimiert, dass sie ausstarben. Und auch in Grönland waren die Tiere einen massiven Jagddruck ausgesetzt im Laufe der Zeit, da die Nachfrage offensichtlich höher war als bisher angenommen. Erst mit neuen Handelsrouten in Afrika und dem Aufkommen von Elfenbein von Elefanten verloren die Wikinger und Nordmänner ihr wertvollstes Gut neben den Pelzen.

Am Fundort der 2007, 2008 und 2011 entdeckten Walrossteile steht heute ein grosses Wohnhaus. Zu Zeiten der Walrossteile stand hier wahrscheinlich eines der Herrschaftsgebäude der damaligen Rurik-Dynastie, die Kiew und die Region der Kiewer Rus vom 9. Jahrhundert bis ins späte 16. Jahrhundert beherrschten. Viele Wissenschaftler gehen davon aus, dass die Dynastie von Wikingern abstammte. Bild: Google Maps Screenshot

Als die Nordmänner unter Erik dem Roten weiter nach Grönland zogen und dort zwei Siedlungsregionen bildeten, konnten sie auf die grösseren Populationen in Westgrönland und dem östlichen Kanada zugreifen. Den Tieren wurden die Schnauzenteile, an denen die begehrten Zähne sassen, abgetrennt und via Ostsee den Dnjepr hoch transportiert. Hier wurden sie wahrscheinlich von der damals herrschenden Rurik-Dynastie, die weitreichende Beziehungen hatte, weiter ins Schwarze Meer und in den Mittleren Osten und wahrscheinlich bis Indien verkauft. Für Barrett und Khamaiko ist klar, dass diese Funde zeigen, wie gross die Macht und die Handelsbeziehungen des damaligen Kiews war: «Kiew war damals ein Handelszentrum und Knotenpunkt zwischen Europa und dem Osten.» Nicht zuletzt auch dank Knochen aus den Weiten der Arktis.

Dr. Michael Wenger, PolarJournal

Link zur Studie: Barrett et al (2022) Proc. R. Soc. B. 289 (20212773) Walruses on the Dnieper: new evidence for the intercontinental trade of Greenlandic ivory in the Middle Ages; https://doi.org/10.1098/rspb.2021.2773

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