Eisbären sind bekannt für ihre hohe Mobilität, die zur Folge hat, dass sie immer wieder an Regionen auftauchen, in denen man sie nicht erwartet. So ist es am vergangenen Samstag in Madeleine-Centre am Südufer des Sankt-Lorenz-Stroms in der kanadischen Provinz Québec geschehen, einige hundert Kilometer südlich des typischen Verbreitungsgebiets. Am Sonntagmorgen entschieden die Behörden, den Eisbären zu erschießen, um die Sicherheit der Anwohner zu gewährleisten.
Noch nie zuvor war ein Eisbär am Südufer des Sankt-Lorenz-Stroms gesichtet worden und die Einwohner des kleinen Orts Madeleine-Centre auf dem 49. nördlichen Breitengrad waren sehr überrascht, den Arktisbewohner am Samstagvormittag in ihrer Gemeinde zu sehen. Ein Mann entdeckte den Eisbären während des morgendlichen Spaziergangs mit seinem Hund in weniger als 30 Meter Entfernung. Der Bär sei jedoch zurück in den Wald gegangen. Kurz darauf forderte die Polizei der Provinz Québec (Sûreté du Québec) die Menschen dazu auf, in ihren Häusern zu bleiben.
Die Wildtierschutzbehörde beobachtete den Eisbären vom Hubschrauber aus und mit Drohnen. Nachdem der Bär sich zunächst in einem Waldstück aufhielt, wurde er am Sonntagmorgen in der Nähe der Hauptstraße gesichtet. Die Behörden kamen zu dem Schluss, dass die Gefahr für die Einwohner von Madeleine-Centre zu groß ist und entschieden sich für die Tötung des Bären.
Sylvain Marois, Bezirkskommandant Südost der Wildtierschutzbehörde von Québec, sagte, dass sie nicht stolz auf den Abschuss des Eisbären seien. Sie könnten zwar kleinere Bären wie Schwarzbären sicher betäuben und transportieren, aber Eisbären seien eine andere Geschichte, weil sie schnell laufen können und sehr aggressiv sind.
Auch wenn jeder getötete Eisbär einer zu viel ist, verurteilt Alysa McCall, wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Polar Bears International, den Abschuss in diesem Fall nicht. Solch kleine Gemeinden verfügen weder über die Ausrüstung noch die finanziellen Mittel für Eisbärenfallen oder Vergrämungsmittel, ganz zu schweigen von der Erfahrung, im Gegensatz zur «Eisbärenhauptstadt» Churchill.
«Nicht-tödliche Optionen sind großartig, aber letztendlich steht natürlich das menschliche Leben an erster Stelle», sagte sie. «Eine Sache, die in den kommenden Jahren passieren muss, ist eine breitere Unterstützung für diese Gemeinden mit mehr Möglichkeiten, wie man mit Eisbären umgehen kann.»
Gelegentlich kommt es vor, dass Eisbären entlang des Nordufers des Sankt-Lorenz-Stroms wandern. Erst Anfang April wurde ein Bär auf der Küstenstraße am Nordufer des Sankt-Lorenz-Stroms außerhalb von Siedlungen gesichtet. Damals war ein Eingreifen von Seiten der Behörden nicht erforderlich. Ob es sich um denselben Bären handelt, ist nicht bekannt.
Wie der Eisbär nach Madelein-Centre gelangt ist, konnte bisher nicht erklärt werden. Möglicherweise folgte er dem Meereis in Richtung Süden. Entlang der Küste der Provinz Neufundland und Labrador ist die Eisbedeckung noch immer bei etwa 80 Prozent und reichte Ende April bis in den Sankt-Lorenz-Golf hinein. Von dort ist er vermutlich weiter nach Süden geschwommen.
Dass Eisbären im Sommer an Land kommen, ist keine Seltenheit, da sich das Meereis dann zurückzieht. Allerdings könnten mit dem Fortschreiten des Klimawandels laut McCall Eisbärensichtungen an Land häufiger werden, wenn immer mehr Meereis verloren geht.
Julia Hager, PolarJournal