Antarctica – Weisse Riesen III | Polarjournal
Christoph Höbenreich am 10. Dezember 2001 auf dem Gipfel des Mt. Vinson mit dem von den Zweitbesteigern 1979 zurückgelassenen Skistock. (Foto: B. Goodlad)

Die Anfänge des Bergsteigens in der Antarktis

Die erste Bergtour am weißen Kontinent wurde im Zuge der britischen Southern-Cross-Expedition durch den Physiker Louis Bernacchi und den Ex­peditionsleiter Carsten Borchgrevink am Kap Adare in Victoria Land im April 1899 unternom­men. Die Gauß-Expedition, die erste deutsche Antarktisexpedition unter der Leitung von Erich von Drygalski, bestieg dann im März 1902 den Gaußberg (365 m) in Kaiser Wilhelm II. Land. Und am 10. März 1908 gelang die Besteigung des ers­ten, großen Berges der Antarktis: In einer abenteuerlichen, fünftägigen Tour erreichten Mitglie­der der von Ernest Shackleton geleiteten Nimrod- Expedition den Gipfel des Mt. Erebus (3795 m) auf der Ross-Insel. Die zweite Besteigung gelang am 13. Dezember 1912 der Terra-Nova-Expedition un­ter Robert F. Scott (der neun Monate vorher bei der Rückkehr vom Südpol mit seinem Team um­gekommen war). Ab Beginn des 20. Jahrhunderts wurden zahlreiche relativ leicht erreichbare Berge auf der Antarktischen Halbinsel bestiegen. Als der Kontinent dann in den folgenden Jahrzehnten mit Forschungsstationen erschlossen wurde, bestieg man auch die Berge im Umfeld und im Hinterland der Stationen, wie etwa im Transantarktischen Ge­birge nahe der US-Basis McMurdo und der neu­seeländischen Scott-Station.

Bergsteigen in der Antarktis war damals den Teilnehmern nationaler Forschungsprogramme im Rahmen ihrer wissenschaftlichen (und pseudo­wissenschaftlichen) Aufgaben vorbehalten, etwa um Proben zu nehmen oder Messgeräte zu instal­lieren. In den 1950er- und 1960er-Jahren wurden während der legendären Hundeschlittentransver­salen zahlreiche Berge bestiegen, zumeist die höchsten und am leichtesten zu erreichenden Gipfel, um primär einen Überblick über das zu er­kundende Gelände zu erhalten. Bergsteigen war Mittel zum Zweck der Durchführung geographi­scher und naturwissenschaftlicher Forschung. Auf nicht wenigen Gipfeln landete man in den 1970er-und 1980er-Jahren auch einfach mit dem Hub­schrauber. Bergsteigen um seiner selbst willen wurde je nach nationalem Forschungsprogramm teilweise begrüßt oder zumindest geduldet, war meist aber verpönt oder untersagt. Manch aben­teuerlustiger Forscher stieg dennoch in seiner Freizeit auf den Berg. Oftmals im Stillen und ohne darüber zu publizieren. Das sollte sich erst durch einige visionäre Bergsteiger und Polarpioniere Mitte der 1980er-Jahre ändern.

Mt. Shinn (links), Vinson-Shinn-Sattel und Vinson-Massiv mit Mt. Vinson Gipfel (rechts der Bildmitte), Silverstein Peak (4990 m, rechts) und der mächtigen, fast 2000 Meter über dem Banscomb Glacier aufragenden Vinson-Westwand. (Foto: Christoph Höbenreich)

Mt. Vinson – der höchste Berg Antarktikas

Erst nachdem das Ringen um die Erstbesteigun­gen aller Achttausender längst beendet war und nur zweieinhalb Jahre vor der ersten Mondlan­dung, gelang es im Rahmen einer aufwendigen Expedition des American Alpine Club unter der Leitung von Nicholas Clinch und mit finanzieller Hilfe der National Geographic Society sowie logis­tischer Unterstützung der US-Marine, erstmals den höchsten Punkt Antarktikas zu betreten. Am 18. Dezember 1966 standen Barry Corbet, John Evans, William Long und Pete Schoening, dem 1958 bereits die Erstbesteigung des Gasherbrum (Hidden Peak) im Karakorum gelungen war, als erste Menschen auf dem Gipfel des Mt. Vinson. Er wurde damals mit einer Höhe von 5140 Meter ver­messen – deutlich zu hoch, wie sich später heraus­stellen sollte. Es war eine der wenigen offiziellen US-Expeditionen mit primär alpinistischer Intenti­on und noch dazu eine besonders erfolgreiche. Ihr gelangen nämlich auch gleich die ersten Be­steigungen des Mt. Shinn (4660 m) und der berg­steigerisch schwierigen Mt. Gardner (4573 m) und Mt. Tyree (4852 m). Der extrem anspruchsvolle Mt. Epperly (4508 m) wurde erst am 1. Dezember 1994 von Erhard Loretan bestiegen, solo, über ein steiles Eisculouir durch seine 2100 Meter hohe Südwand.

Die zweite und nicht ganz unumstrittene Be­steigung des Mt. Vinson glückte am 22. Dezember 1979 den Deutschen Peter von Gizycki und Werner Buggisch sowie dem Russen Vladimir Samsonov während einer US-Forschungsexpedition. Da die drei bergsteigenden Geologen aber weder den of­fiziellen Auftrag noch die Autorisierung zur Bestei­gung hatten, führte ihre Aktion zu einer Missstim­mung beim US-Antarktis-Forschungsprogramm (USARP). Tourismus in der Antarktis und damit auch Bergsteigen und Skilaufen aus rein hedonis­tischen Gründen waren gegen dessen Politik. Aber ein wissenschaftlicher Vorwand wurde gefunden: Mit einer auf dem Gipfel an einem Skistock impro­visiert aufgepflanzten, gut sichtbaren roten Flag­ge konnte die Höhe des Vinson-Massivs für den Geological Survey trigonometrisch neu vermes­sen und auf 4897 Meter korrigiert werden. Der Ski­stock verblieb und zierte den Gipfel bis 2007.

Ab Mitte der 1980er-Jahre wurde der Mt. Vin­son dann als einer der sogenannten Seven Sum­mits, der höchsten Berge aller sieben Kontinente, zum Ziel der Begierde. Die amerikanischen Millio­näre Dick Bass, Besitzer des Snowbird Ski Resorts in Utah, und Frank Wells, Präsident der Warner Brothers Studios und später der Walt Disney Com­pany, bezahlten Topalpinisten, um sie auf die be­gehrten Gipfel zu führen. Für den Mt. Vinson enga­gierten sie die Bergsteigerlegenden Chris Boning­ton und Rick Ridgeway. Doch weder die ameri­kanische National Science Foundation noch der British Antarctic Survey wollten diese private Un­ternehmung unterstützen. Erst durch eine diplo­matische und flugtechnische Meisterleistung des Polarpiloten Giles Kershaw gelang ihnen am 23. November 1983 schließlich die dritte Besteigung des Berges. Auch Reinhold Messner wollte teil­nehmen. Er wurde jedoch ausgebootet, da er den Amerikanern sonst den Ruhm als erster Mensch (und „richtiger“ Alpinist) auf den Seven Summits weggeschnappt hätte. Bass und Wells lösten mit ihrem Buch „Seven Summits“ einen globalen Bergreiseboom aus. Messner konnte dann in des­sen Sog am 3. Dezember 1986 mit Adventure Net­work International (ANI) neben Oswald Ölz, Wolfgang Thomaseth und Gerhard Schmatz den Mt. Vinson besteigen und damit auch ein halbes Jahr nach Pat Morrow und als zweiter Mensch überhaupt die anspruchsvollere Seven-Summit- Liste komplettieren – mit der Carstensz-Pyramide als höchstem Berg Australozeaniens.

Die Freigeister, Polarpioniere und ANI-Gründer Pat Morrow (links), Giles Kershaw und Martyn Williams (rechts) 1985 in Punta Arenas. (Foto: Archiv Pat Morrow)

Den Mt. Vinson überhaupt zu erreichen, war damals viel schwieriger, als ihn zu besteigen. Die Pionierarbeit und der Mut von Giles Kershaw so­wie der Innovationsgeist des britischen Glaziolo­gen Charles Swithinbank machten es möglich, nicht nur aufwändig mit kleinen Skiflugzeugen, sondern mit größeren Transportmaschinen direkt ins Innere Antarktikas zu fliegen. Schlüssel zur Entwicklung der zivilen Polarluftfahrt und damit des privaten Expeditionswesens in der Antarktis war die Entdeckung eines von katabatischen Win­den blankgefegten Blaueisfeldes am Fuße der Pa­triot Hills in der Heritage Range. Hier konnte Flug­pionier Kershaw am 01. Dezember 1986 erstmals ein Flugzeug mit Rädern, eine DHC-6, im Inneren des Kontinents landen und starten. Er und die kanadischen Alpinisten Pat Morrow und Martyn Williams, denen am 19. November 1985 die vierte Besteigung und auch die erste Skiabfahrt vom Mt. Vinson gelungen war, erkannten das Potenzi­al, die höchsten Berge der Antarktis für Seven- Summit-Aspiranten zugänglich zu machen. Sie gründeten dazu das Logistiknetzwerk der ANI, das als erstes privates Flugunternehmen betuchte Al­pinisten von Punta Arenas in Chile zum Mt. Vinson beförderte und private Skiexpedtionen bis zum Südpol ermöglichte: eine Innovation, die die Zu­gänglichkeit der inneren Antarktis für private Ex­peditionen schlagartig veränderte. Sie ermöglich­te dann 1989/90 auch die 2390 Kilometer lange Antarktis-Transversale von Reinhold Messner und Arved Fuchs sowie die spektakuläre 6048 Kilome­ter lange, internationale Hundeschlittenexpediti­on Trans-Antarctica.

Die Idee, den höchsten Berg jedes Kontinents zu besteigen, beflügelte eine weltweite Bergreise­industrie. Der Mt. Vinson zog Bergsteiger aus aller Welt an, er wurde nicht nur von Alpin- und Tele­markskifahrern (Pat Morrow und Martyn Williams, 1985) sondern auch Paragleitern (Vernon Tejas, 1988) und Snowboardern (Stephen Koch, 1999) erfolgreich befahren bzw. beflogen.

Als Buschflugzeug weltweit im Einsatz ermöglicht die Twin Otter mit Kufen auch Expeditionen zu den Bergen im Inneren der Antarktis. (Foto: Christoph Höbenreich)

Ich hatte zu Beginn der 2000er-Jahre das Privi­leg, die kleine Polarbasis Mt. Vinson Base Camp der ANI leiten und den Berg insgesamt fünf Mal besteigen zu dürfen. Es waren noch wilde Pionier­zeiten mit viel Freiheit im höchsten Gebirge der Antarktis. Die antarktische Stille und Abgeschie­denheit schenkten mir einige der intensivsten Er­fahrungen meines Lebens. Damals kam auch Da­mien Gildea in das Camp, der immer wieder in die Sentinel Range reiste, um die höchsten Berge zu besteigen und mit Hilfe modernster GPS-Techno­logie digital zu vermessen. Dem australischen Al­pinpionier verdanken wir heute nicht nur die ge­naueste und offiziell gültige Höhe des Mt. Vinson – 4892 Meter –, sondern auch die ausführlichste Chronik der antarktischen Alpingeschichte.

Seitdem hat sich am Berg viel getan. Die aben­teuerlichen Zeiten, in denen man als Basecamp-Manager in diesem gewaltigen Massiv auf sich al­leine gestellt war, sind vorbei. Gab es damals jähr­lich nur ein paar Dutzend Bergsteiger, so tummeln sich dort mittlerweile jedes Jahr in der kurzen Sommersaison von November bis Ende Januar zwischen 150 und 200 Bergsteiger. Seit der Über­nahme der Pionierorganisation durch die Antarctic Logistics & Expeditions wurde das Vinson Basecamp professionell ausgebaut und mit meh­reren Personen besetzt. Am Berg selbst legt man seit 2007 die Route nicht mehr über die risikorei­che, da von Eisschlag bedrohte und von Gletscher­spalten durchzogene Flanke zum Vinson-Shinn- Sattel, sondern mit Fixseilen über einen etwas stei­leren, aber sicheren Eishang entlang der Vinson- Westwand. Es gibt vorgegebene Hochlagerplätze und sogar patrouillierende Ranger. Und auch die legendäre Hauptbasis Patriot Hills mit ihren be­rüchtigten, quer zur Landerichtung wehenden ka­tabatischen Fallwinden wurde 2010 durch ein neues Camp und eine gegen den Wind angelegte Landepiste am Union Glacier ersetzt.

Der Mt. Vin­son avancierte zu dem am häufigsten bestiegenen Berg des Kontinents, sieht man einmal vom 230 Meter hohen Ausflugshügel Observation Hill nahe der siedlungsartigen US-Polarstation McMurdo ab. All das hat dem Berg aber nichts von seiner Faszination genommen. Das Glück auf diesem ex­klusiven Gipfel und dem Dach Antarktikas zu ste­hen und die Ausblicke über die Ellsworth Moun­tains und die Weiten des Inlandeises zu genießen, lässt nach wie vor jedes Bergsteigerherz jubilieren.

Nach Jahrzenten noch genießbar: Delikatessen einer amerikanischen Expedition aus den 1960er-Jahren. (Foto: Christoph Höbenreich)

Bergsteigen und Umweltschutz in der Antarktis

Antarktika ist nicht nur der südlichste, kälteste, windigste und tro­ckenste, sondern auch der friedlichste und der sauberste Kontinent der Erde. Vereisung, klimatische Verhältnisse und die (noch) zu hohen Kosten schützen ihn bisher vor geologischer Ressourcenausbeutung.

Antarktika zu erreichen, wirft nicht mehr oder weniger Fragen hin­sichtlich des CO2-Ausstoßes auf als der moderne Flug- oder Schiffs­verkehr zu anderen Kontinenten. Aber bereits bei der Anreise gibt es schon einen Unterschied: Die Ausrüstung muss mit Staubsau­gern peinlichst genau gereinigt und die Schuhe müssen desinfiziert werden, bevor man Antarktika betritt. Es dürfen keine Keime oder Samen eingeschleppt werden. Ein umweltbewusstes Vorgehen er­scheint an vielen Bergen der Erde lediglich als leere Worthülse, wenn man beispielsweise an die Müllhalden in Basislagern oder die mit Fäkalien übersäten Routen und Hochlager der überlaufenen „Weltberge“ denkt. In der Antarktis hingegen ist Umweltschutz ge­lebte Praxis. So werden von den antarktischen Bergen sämtliche Abfälle einschließlich der Fäkalien wieder vom Berg mitgenommen, ins Basislager getragen und ausgeflogen. Durch die tiefen Tempera­turen sind mikrobiologische Zerfallsprozesse äußerst langsam, wo­durch jedes organische Material für Jahrhunderte konserviert blie­be. So berichtete Peter von Gizycki, am Gipfel des Mt. Vinson eine Aprikose der Erstbesteiger ge­funden zu haben, die nach 13 Jahren noch immer unverdorben war und vorzüglich schmeckte.

Die Trans-Antarktis-Expedition 1989/90 war die längste und letzte große Hundeschlitten-Expedition auf dem Kontinent: 6’048 Kilometer in sieben Monaten. (Foto: W. Steger)

Das Umweltprotokoll zum Ant­arktisvertrag von 1991 erlaubt keine fremden Tierarten am Kon­tinent mehr. Dass die Umweltschutzregeln auch die eleganten Hundeschlittengespanne zum Schutz der einheimischen Tierwelt vor übertragbaren Krankheiten verbieten, ist traurig, aber nachvollziehbar. Motorfahrzeuge aller Art sind dagegen zulässig. Jetzt ist man als Bergsteiger auf Skiflugzeuge oder Fahrzeuge angewiesen oder, ganz modern und umweltscho­nend, mit Ski und Windsegeln in der weißen Wildnis unterwegs. In der Antarktis gibt es auch keine indigene Bevölkerung, die beim Transport helfen könnte – und andererseits durch Expeditionsberg­steiger einem Kulturkonflikt ausgesetzt wäre.

Autor: Christoph Höbenreich

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