Nach zwei Jahren Pandemie-bedingter Pause fand am 19. Mai 2022 das niederländische Polarsymposium erstmals wieder statt, zu dem sich (Nachwuchs-)Wissenschaftler, Künstler, Vertreter aus der Tourismusbranche und Interessierte aus den Niederlanden in Den Haag trafen. Das Symposium stand ganz unter dem Zeichen der Nachhaltigkeit in den Polargebieten, wobei sowohl wissenschaftliche als auch kommerzielle Aktivitäten unter die Lupe genommen wurden. Ein besonderer Fokus lag auf dem Tourismus in den Polargebieten, vor allem in der Antarktis, und dessen Entwicklung in der nahen Zukunft.
Die Polargebiete üben seit jeher eine hohe Anziehungskraft auf den Menschen aus. Doch während Reisen in die Arktis und Antarktis noch bis vor etwa 170 bzw. 60 Jahren wagemutigen Entdeckern und Walfängern vorbehalten waren, zieht es seit den Anfängen des kommerziellen Tourismus in den Polargebieten jedes Jahr mehr Besucher in die kalten Regionen.
Im antarktischen Sommer 1991/1992 — die Saison nach der Verabschiedung des Umweltprotokolls zum Antarktisvertrag — reisten insgesamt etwa 6.400 Passagiere an Bord von zehn kleinen Expeditionsschiffen oder Yachten, die zu sechs Betreiberfirmen gehörten, in die Antarktis und nahmen an Landausflügen teil. Seitdem stieg die Zahl der jährlichen Besucher exponentiell an und lag in der Vor-Pandemie-Saison 2019/2020 bei etwa 74.400 Passagieren, wobei ungefähr ein Viertel der Besucher eine Reise ohne Landgänge machte. Zudem gab es vor der Pandemie fast acht Mal so viele Betreiber wie in der Saison 1991/1992, die mit über 60 Schiffen insgesamt 408 Kreuzfahrten unternahmen. Hinzu kommen auch immer mehr Passagiere, die per Flugzeug direkt auf den Weißen Kontinent reisen.
Dabei konzentriert sich allerdings der weitaus größte Teil der touristischen Aktivitäten auf die nordwestliche Spitze der Antarktischen Halbinsel innerhalb von nur knapp sechs Monaten im Jahr. Auf dem Polar-Symposium in Den Haag wurde daher von mehreren Vortragenden die Sorge geäußert, dass die rasante Entwicklung des Antarktistourismus negative Folgen für die einzigartige Natur und Tierwelt in der Region haben könnte — trotz der strengen Naturschutzauflagen, die durch den Antarktis-Vertrag, von CCAMLR (Kommission zur Erhaltung der lebenden Meeresschätze der Antarktis) und von der IAATO (International Association of Antarctica Tour Operators/Internationaler Verband der Reiseveranstalter mit Zielgebiet Antarktis) festgesetzt wurden.
So stellte beispielsweise Florence Kuyper, selbständige Expeditionsleiterin, sich selbst und dem Publikum mehrere Fragen, das Wachstum der Branche betreffend. Erstens, ob man überhaupt in die Polarregionen reisen sollte. Zweitens, ob die stetig zunehmende Anzahl an besonderen Angeboten seitens der Anbieter (z.B. Kayaking, Camping, Tauchen, Schnorcheln, Schneeschuhwandern, Klettern, Skifahren und viele weitere Aktivitäten) das polare Erlebnis der Passagiere verstärkt oder ob diese Art von «Entertainment» in dieser einzigartigen Region vielleicht nicht unbedingt nötig ist und das Naturerlebnis Unterhaltung genug ist. Ebenso unsicher ist Kuyper, ob zur Unterhaltung an Bord neben Vorträgen zu Natur, Geschichte, Klimawandel und anderen Themen nun auch Modenschauen und Karaoke gehören sollten.
Zudem beobachtet Kuyper eine Entwicklung hin zu mehr Luxus an Bord der Expeditionsschiffe, zum Beispiel in Form von Wellnessbereichen, Fitnessräumen, Aufzügen, Lounges. Da wundert es kaum, dass die Gäste auch vom «Programm», das die Natur selbst bestimmt, immer mehr erwarten: am Vormittag sollten Pinguine auf einer Eisscholle am Schiff vorbei treiben, oder in der Arktis, nach dem Mittagessen zwei Eisbären, die sich vor dem Schiff räkeln, überspitzt ausgedrückt.
Andererseits integrieren die Betreiber zunehmend Angebote zu Natur- und Umweltbildung, Bewusstseinsbildung und zur Teilnahme an Citizen Science Projekten oder Cleanups, was Kuyper zufolge das Erfolgsrezept für die Branche sein dürfte und bereits aktiv von (zukünftigen) Passagieren nachgefragt wird.
Derartige Angebote tragen wie auch anderenorts in der Umweltbildung dazu bei, über das unmittelbare Naturerlebnis hinaus, die Verbindung zur Natur und zu den besonders fragilen Polarregionen (wieder-)herzustellen und somit das Bedürfnis zu wecken, diese schützen zu wollen. Für Kuyper ist dies der Weg, den die Tourismusbranche in der Arktis und Antarktis weiter verfolgen sollte.
Während die Fragen zum Bau von zahlreichen neuen Schiffen für noch mehr Besucher und zusätzlichen Aktivitäten während der Reisen offen blieben, fand Kuyper eine klare Antwort auf die Kardinalfrage: «Soll man überhaupt in die Polarregionen reisen?» — «Ja!», solange entsprechende Bewusstseinsbildung durch die Verknüpfung von Tourismus mit Wissenschaft und Aktivitäten stattfindet.
Antarktisvertragsstaaten, beratende Parteien und Wissenschaftler beobachten den zunehmenden Tourismus in der Antarktis ebenfalls seit Jahren mit Sorge. Die Universität Tilburg, Universität Utrecht und die Wageningen University & Research starteten im vergangenen Jahr daher das Gemeinschaftsprojekt «Proactive Management of Antarctic Tourism», in dem unter anderem «neue politische Instrumente untersucht werden sollen, die das Potenzial haben, den wachsenden Tourismus auf ein wünschenswertes Maß zu begrenzen und gleichzeitig Mittel für den Schutz der Antarktis bereitzustellen».
Dafür setzt sich auch Dr. Ricardo Roura, Sozialwissenschaftler und Berater für Umweltschutz im Antarktisvertragssystem, ein, indem er bei den Antarctic Treaty Conference Meetings entsprechende Maßnahmen zum Schutz der Antarktis empfiehlt. Dazu zählen die einheitliche Bewertung touristischer Aktivitäten, die Überwachung der Auswirkungen des Tourismus und die Bewertung der Wirksamkeit bestehender Tourismusvorschriften.
Das Symposium, das vom Niederländischen Polarprogramm (NWO), der Vereinigung für Nachwuchswissenschaftler in der Polarforschung (APECS) und vom Dutch Arctic Circle organisiert wurde, verdeutlichte, dass der Schutz der Antarktis in der niederländischen polaren Gemeinschaft ganz oben auf der Agenda steht. Nun bleibt abzuwarten, welche Dynamik von diesem Symposium, das klare Akzente gesetzt hat, ausgehen kann.
Julia Hager, PolarJournal