Die beiden «Sorgenkinder» der Westantarktis — der Thwaites-Gletscher und der Pine Island Gletscher — haben in den letzten Jahrzehnten viel Eis verloren und schmelzen weiterhin extrem schnell. Einer neuen Studie zufolge könnte der Eisverlust dieser beiden Gletscher in den kommenden Jahrhunderten zu einem Meeresspiegelanstieg von bis zu 3,4 Metern beitragen. An der Studie, die im Fachjournal Nature Geoscience veröffentlicht wurde, waren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unter anderem von der University of Maine, dem British Antarctic Survey und dem Imperial College London beteiligt.
Der Thwaites-Gletscher und der Pine Island Gletscher sind besonders anfällig für ein schnelles Abschmelzen, da die Topographie des Untergrunds zum Inland hin abfällt und warmes Ozeanwasser unter schwimmende Teile der Gletscherzungen fließen kann, das unkontrollierten Eisverlust nach sich zieht. Das Forschungsteam unter der Leitung der University of Maine wollte verstehen, wie sich der relative (lokale) Meeresspiegel seit dem mittleren Holozän vor etwa 5.500 Jahren verändert hat — eine Zeit, in der das Klima wärmer, der Meeresspiegel höher und die Gletscher kleiner waren als heute.
Dafür sammelten sie auf abgelegenen Inseln in der Pine Island Bucht Muscheln und Pinguinknochen an früheren Stränden, die heute über dem modernen Meeresspiegel liegen. Mit Hilfe der Radiokarbondatierung untersuchte das Team Muscheln und Knochen, um herauszufinden, wann die Strände entstanden sind. Anhand der gewonnen Daten stellten sie fest, dass der relative Meeresspiegel in der Region in den letzten 5.000 Jahren stetig gesunken ist, was darauf hin deutet, dass die Gletscher in dieser Zeit relativ stabil waren ohne großflächigen Zuwachs oder Rückzug.
Große Gletscher belasten mit ihrem Gewicht die Erdkruste und drücken sie nach unten. Schmilzt großflächig Eis, hebt sich die Erdkruste wieder, sodass frühere Strände nun höher liegen als der Meeresspiegel.
«Die relative Veränderung des Meeresspiegels ermöglicht es, die großräumige Be- und Entlastung der Kruste durch das Eis zu erkennen. So würde beispielsweise ein Gletscherrückgang, der zu einer Belastung der Kruste führt, die Geschwindigkeit des relativen Meeresspiegelabfalls verlangsamen oder möglicherweise sogar dazu führen, dass das Land unter den Meeresspiegel abtaucht», sagt Brenda Hall, Professorin an der School of Earth and Climate Sciences und dem Climate Change Institute der University of Maine und Co-Autorin der Studie.
Die Untersuchungen der Muscheln ergab außerdem, dass der relative Meeresspiegelabfall damals fast fünfmal niedriger war als heute, wofür sehr wahrscheinlich der derzeitige rapide Eisverlust in der Region verantwortlich ist.
Dr. Joanne Johnson, Geologin beim British Antarctic Survey und leitende Forscherin des Geological History Constraints-Teams, das Teil der internationalen Thwaites-Gletscher-Kollaboration ist, die die Forschungsarbeiten durchführte, erklärt: «Ein Blick in die Vergangenheit ermöglicht es uns zu verstehen, wie diese massiven Gletscher auf Klimaveränderungen reagieren. Unsere Ergebnisse zeigen, dass die Gletscher selbst bei einem wärmeren Klima vor 5.000 Jahren nicht wesentlich kleiner waren als heute. Die von uns gemessene viel langsamere Geschwindigkeit des relativen Meeresspiegelabfalls deutet jedoch darauf hin, dass der dramatische Eisverlust, den wir jetzt erleben, in der jüngsten geologischen Vergangenheit beispiellos ist. Wir müssen dringend mehr über diese Gletscher erfahren, um festzustellen, ob ihr derzeitiger Rückzug rückgängig gemacht werden kann und unter welchen Bedingungen dies möglich ist. Dies ist von entscheidender Bedeutung, wenn wir für den künftigen Anstieg des Meeresspiegels wirksam planen wollen.»
Julia Hager, PolarJournal
Beitragsbild: David Vaughan