Viele spektakuläre Naturphänomene geschehen an abgelegenen Orten, die schwer zu erreichen sind. Vor der Küste von Nordnorwegen kommt dazu noch eine besonders unvorteilhafte Jahreszeit, an denen sich ein Blick unter die Wasseroberfläche lohnt. In den Wintermonaten ziehen massenhaft Orcas und Buckelwale in die Fjorde und jagen gewaltigen Heringsschwärmen nach. Das große Fressen kann beginnen.
Das Tier, das sich vor mir in die Höhe hebt, ist ein wahrer Gigant. Vermutlich zwölf Meter lang und 25 Tonnen schwer. Doch trotz der gewaltigen Masse verharrt es nahezu anmutig über mir, dreht sich dann langsam auf die Seite und sinkt wieder ab. Würde diese Begegnung an der Luft stattfinden, hätte vermutlich mein letztes Stündlein geschlagen. Doch ich befinde mich gerade in sechs Meter Wassertiefe im Nordatlantik und so wird mich der gewaltige Buckelwal auch nicht erdrücken, sondern behutsam an mir vorüberziehen und wieder im tiefen Blau verschwinden. Durch meinen Kamerasucher schaue ich dem Tier hinterher und würde ihm gerne folgen, doch der Wal wird sich in den nächsten Minuten zwischen 80 und 120 Meter Tiefe aufhalten und befindet sich damit weit außerhalb meiner Reichweite. Ein kleiner Trost bleibt: Ich kann ihn nicht sehen – aber ich kann ihn hören. Und zwar nicht nur das eine Tier, das gerade an mir vorbeigezogen ist, sondern vermutlich dutzende seiner Artgenossen und weitere Walarten. Um mich herum pfeift, quiekt, summt und brummt es, als wäre ich umgeben von tausenden Kanarienvögeln und schnatternden Enten in einem Haus mit hundert quietschenden Türen.
Hier in der Tiefe des Andfjords zwischen den Inseln der Vesterålen haut sich ein großer Teil der Buckel- und Schwertwalpopulation des Nordatlantiks den Bauch voll. Mit Heringen. Die riesigen Schwärme finden sich am Beginn des Winters in den Fjorden rund um die noch nördlicher gelegene Stadt Tromsø und ziehen dann in den folgenden Monaten weiter südlich, um nach Erledigung ihres Laichgeschäfts in der Nähe der Küste wieder hinaus in den offenen Ozean zu ziehen. Auf ihrer Reise werden sie dabei ständig von den hungrigen Walen begleitet, die dem Hering in der Tiefe nachstellen, aber auch einzelne, isolierte Schwärme, sogenannte Baitballs, in flache Buchten treiben, um sie dort nach und nach aufzufressen. Die wilde Jagd der Wale läuft in diesem Winter schon seit einigen Wochen. Meine Jagd nach packenden Bildern dieses Naturschauspiels hat gerade erst begonnen.
Ich arbeite als Unterwasserkameramann für die deutsche Naturfilmschmiede Nautilusfilm und das in Norwegen ansässige Expeditions- und Reiseunternehmen Northern Explorers, die im Auftrag von NDR Naturfilm an einer aufwendigen Dokumentation ausgewählter Tiere der norwegischen Fjordlandschaft arbeiten. In dem auf zwei Jahre angesetzten Filmprojekt werden gefräßige Seesterne und laichende Lachse ebenso eine Hauptrolle bekommen wie die Giganten der Meere im eisigen Wasser nördlich des Polarkreises. Die Arbeitsbedingungen für diesen Part sind im Januar denkbar schwierig: Die Sonne kommt erst gar nicht zum Vorschein, die Dämmerung um die Mittagszeit lässt wenig Licht über den Wellen zu, unter Wasser verschluckt das schummrige Zwielicht schon nach wenigen Metern wieder jegliche Formen. Um zwei Uhr herrscht wieder Dunkelheit. Doch die Polarnacht neigt sich ihrem Ende zu, jeder Tag wird zusehends heller, das schwache Orange hinter den schneebedeckten Bergen satter und wärmer, die Konturen der Wellenkämme schärfer. Wind- und Wettervorhersagen in diesen Breiten sind mit Vorsicht zu genießen, meistens rätseln wir nur über die Prognosen der nächsten 24 Stunden, die von der Realität häufig weit entfernt sind. Bei minus acht Grad zieht ein Sturm über uns und große Teile Norwegens hinweg, die Gischt peitscht über die mit einer schimmernden Eisschicht überzogene Hafenmole der Stadt Andenes. Die bläuliche Glasur ist sicherlich ein schönes Fotomotiv, aber kein gutes Zeichen für effiziente Arbeit auf unserem Schiff. Die SJØBLOMSTEN (norwegisch für ‚Seeblume‘) ist ein ehemaliges Walfangschiff und trotzt auch schwerer See, aber an ein Tauchen mit den Walen ist bei solchen Bedingungen nicht zu denken. Die Tiere stört das nicht; Während an Deck mein Tauchanzug, meine Handschuhe und Füßlinge schon steifgefroren sind, toben die mit einer dicken Speckschicht gut geschützten Schwertwale durch die kalten Wellen um unser Boot, jagen von einer Seite auf die andere und sind zwischen den Schaumkronen auch schon wieder verschwunden.
Wir entscheiden uns, mit der SJØBLOMSTEN über den Andfjord hinüber zur Insel Senja zu fahren, wo einzelne Buchten bei der gerade herrschenden Windrichtung besseren Schutz versprechen. In der Hafeneinfahrt von Andenes treffen uns die hohen Wellen, die uns die nächsten zwei Stunden von einer Seite auf die andere schaukeln und die Ausrüstung im Vorschiff und im Laderaum einmal durcheinander werfen werden. Unser Schiff tanzt über die Wellen, die kalte Gischt fegt aus der schwarzen Nacht über das Deck und lässt unser Team am Sinn unseres Vorhabens zweifeln. Spaß haben offenbar nur die kreischenden Möwen, die gemütlich in den Schein des Decklichts segeln. Im Schutz der Insel werden die Wellen kleiner, der Wind lässt nach und endlich sehen wir auch den Blas zahlreicher Wale vor der steilaufragenden Küste.
Hektische Betriebsamkeit ersetzt lethargische Seekrankheit. Eisstücke fliegen in alle Richtungen, als wir unsere mit Schnee bedeckten Kamerakoffer öffnen und ich mich in meinen Tauchanzug zwänge. Der Sprung ins vier Grad kalte Wasser öffnet mir den Blick in eine dunkle Welt, die von den meisten Menschen als lebensfeindlich, öde und leer angesehen wird. In Wirklichkeit sind es gerade die polaren Regionen mit einem reichhaltigen Nährstoffangebot, in denen sich Massen von Tieren und Pflanzen anfinden, die auf dem Planeten ihresgleichen suchen. Ein tropisches Korallenriff mag kunterbunt und vielfältig an unterschiedlichen Arten sein. Die schiere Biomasse eines Kelpwaldes vor Norwegen und die unüberschaubar riesigen Fischschwärme unter unserem Schiff übertreffen es bei weitem. Aber im grauen Wasser begegnen mir nur vereinzelt Seelachse, Dorsche und Heringe. Ein großer Schwarm ist das nicht. Als ich nach vorne sehe, erkenne ich einzelne weiße Flecken am Rand der Sichtweite, die sich auf mich zubewegen. Es werden immer mehr und wenige Sekunden später ziehen zwanzig Orcas mühelos an mir vorbei. Dahinter folgt der große Buckelwal, zieht einmal über mich hinweg und folgt zielstrebig der Schule Orcas. Beobachtungen der Tiere haben gezeigt, dass häufig die Schwertwale die Jagd in einem von ihnen entdeckten Fischschwarm beginnen und wohl durch ihre Lautäußerungen zur Kommunikation die in der Nähe befindlichen Buckelwale anlocken. Die Tiere nähern sich dann mit großer Geschwindigkeit, tauchen unter den Schwarm und schießen nach oben. Ein unvergesslicher Anblick, wenn bei dieser Jagd die Heringe in Panik aus dem kochend-aufgewühlten Wasser springen und einen Wimpernschlag später der Koloss mit weit geöffnetem Maul brachial die Wasseroberfläche durchbricht, seine Kiefer über mehreren Tonnen zappelnden Fischleibern schließt und wieder unter den Wellen versinkt. Bei solchen Begegnungen hängen Sven Gust von den Northern Explorers und Jan Haft, Gründer von Nautilusfilm, gebannt vor dem Unterwassermikrofon, dem sogenannten Hydrophon, jeder mit einer Hälfte des Kopfhörers ausgestattet, und lauschen der nassen Symphonie, dem Quaken, Zwitschern, Pfeifen und Brüllen der Meeressäuger. Das Reich in der Tiefe ist alles andere als still. Und alles andere als öde und leer.
Der Tag endet mit erfolgreichen Aufnahmen von Heringsschwärmen und ziehenden Orcas, die wir sowohl unter Wasser als auch mit einer Kameradrohne aus der Luft filmen. Es scheint, als ob die Wale mit uns Katz und Maus spielen. Wir sehen die Buckelwale in einiger Entfernung aus dem Wasser schießen, doch sobald wir an der Stelle ankommen, ist die Jagd schon wieder vorbei, die Wale satt und unseren Blicken entzogen. Einzig die unzähligen an der Oberfläche glitzernden Fischschuppen deuten darauf hin, dass sich hier vor wenigen Augenblicken ein gewaltiges Massaker ereignet haben muss …
Am nächsten Tag lerne ich Marco von der Schulenburg kennen, einen leidenschaftlichen Wal-Kenner der ersten Stunde. Die folgenden Tage verbringe ich damit, die wenigen Stunden mit Tageslicht in kompletter Tauchausrüstung in einem winzigen Schlauchboot hinter Marcos Boot zu liegen. Sobald sich genügend Wale in der Nähe befinden, versuche ich mein Glück, gleite ins Wasser und schwimme den Rückenflossen entgegen. Von Mal zu Mal wird die Anstrengung, mich zurück ins Boot zu wuchten und die Enttäuschung größer, wenn sich die Wale nur für Sekunden als helle Flecken unter Wasser zeigen und dann mühelos in der Ferne verschwinden. Doch bei Tierbeobachtungen dieser Größenordnung erhält man die Belohnung offensichtlich nur nach längerem Leiden. Als wir auf dem Rückweg zum Hafen dicht an der Steilküste entlang eine flache Bucht passieren, können wir unseren Augen kaum trauen: Nur wenige Meter von der grauen Klippe entfernt zählen wir mindestens zwanzig Rückenflossen von Orcas und Buckelwalen, die jetzt nicht mehr gemütlich ziehen, sondern aus dem Wasser springen, sich zuckend von einer Seite auf die andere werfen und mit ihren Fluken das Wasser aufwühlen. Wir haben keinen Zweifel: Die große Jagd liegt endlich vor uns. Marco manövriert sein Boot dichter an die Küste heran und im Schatten der aufragenden Berge schwimme ich in die Dunkelheit unter Wasser. Im nächsten Moment schießt eine Wand aus sich windenden Fischleibern auf mich zu, die vom Sandboden in zehn Meter Wassertiefe bis an die Oberfläche reicht und mich umschließt. Der gewaltige Schwarm teilt sich sofort wieder und gibt den Blick frei auf den Jäger: Ein Orcabulle rast mir entgegen, schlägt mit seiner Schwanzflosse in die panische Horde Heringe und lässt sich vom Schwung seines eigenen Körpers langsam herumwirbeln. Der Schwertwal schlägt vor meinen Augen einen Purzelbaum – und pflückt dann in aller Ruhe mit seinen kräftigen Kiefern die betäubten oder schon zerfetzten Heringe aus der Wassersäule. Die Fische versuchen zu entkommen, werden aber von weiteren Orcas der Gruppe bereits erneut zusammengetrieben. Die nächsten Minuten werde ich Zeuge des eindrucksvollen Verhaltens eines der intelligentesten Jäger unserer Erde. Die Tiere kooperieren miteinander, kommunizieren mit Klicken und Pfeifen, halten den riesigen Fischschwarm im flachen Wasser vor der Küste und nehmen sich Zeit, den besten Happen auszuwählen. Bei dieser machtvollen Demonstration der Natur in der flachen Bucht liegen Leben und Tod ganz dicht beieinander, hier umkreisen die kräftigen Körper der gewaltigen Schwertwale die pulsierenden Säulen der Heringe und feiern ein Festmahl inmitten von halbzerfetzten Fischen. Aber die geschickten Jäger sind nicht die einzigen Gäste der reich gedeckten Tafel … – als ich erneut zum Luftholen an die Wasseroberfläche komme, überrollt mich eine Druckwelle aus Wasser, Schaum und Heringen. An der Stelle direkt neben mir, an der sich eben noch eine undurchdringliche Mauer aus Fischen befunden hat, rollt jetzt der grotesk aufgeblähte Körper eines Buckelwals, in seinem extrem dehnbaren Kehlsack tausende Liter Wasser und sicher ebenso viele Heringe. Der Wal windet sich, als er das Wasser durch seine Barten presst und dabei die Fische im Maul zurückbehält. Der Fleischballon wird zusehends kleiner, die Heringe wandern in den Walmagen und das frisch gemästete Tier verschwindet aus meinem Blick, als sich der Raum vor mir wieder mit Heringen füllt. Nach dieser unmittelbaren Begegnung kommt mir der Gedanke, dass bisher noch kein Mensch herausfinden musste, wie man aus einem Buckelwal wieder hinausklettert, falls man versehentlich von solch einem Ungetüm verschluckt worden ist … Insgesamt verbringe ich mehr als eine Stunde inmitten des chaotischen Getümmels und lege die Kamera erst zurück ins Boot, als die Dunkelheit unter Wasser für menschliche Augen keine Unterscheidung mehr zwischen Hering, Buckelwal und Orca zulässt. Völlig erschöpft und mit kalten Fingern ziehe ich mich in das kleine Schlauchboot, während vor dem grandiosen Panorama zerklüfteter, schneebedeckter Berge die Walmahlzeit weitergeht.
Die Wale werden noch einige Tage im Andfjord verbringen, bevor sie ihrer wandernden Speisekammer, den massiven Heringsschwärmen, weiter in den Süden folgen und sich schließlich wieder im Atlantik verstreuen, bevor sie im nächsten Winter erneut ihre Wanderung in die reichhaltigen Jagdgründe beginnen. Für uns bleiben eindrucksvolle Aufnahmen der jagenden Tiere. Und auf meinem Tauchanzug ein feiner Geruch von Hering.
Text und Fotos: Uli Kunz
Dieser Gastbeitrag ist ein Auszug aus Uli Kunz‘ aktuellem Buch „Leidenschaft Ozean – Expeditionen in die Tiefe“.
Zahlreiche weitere Kapitel über seine Tauchexpeditionen und sein leidenschaftliches Engagement für die bedrohten Lebensräume im Ozean versprechen ebenso spannende Lektüre.
Das Buch ist bestellbar auf der Webseite des Knesebeck Verlags:
https://www.knesebeck-verlag.de/leidenschaft_ozean/t-1/987
Uli Kunz, geboren 1975, wuchs im baden-württembergischen Kehl am Rhein auf. Als Teenager machte er seinen ersten Tauchschein und entdeckte die Liebe zum Meer. 1997 zog er nach Kiel, um Meereskunde und Ozeanografie zu studieren. Dort kaufte er sich auch seine erste Unterwasserkamera – eine gebrauchte analoge Nikonos. Die hütet er bis heute wie einen Schatz, obwohl er längst nur noch digital fotografiert. Mit vier Freunden hat er die Forschungstauchgruppe Submaris gegründet und begleitet wissenschaftliche Expeditionen rund um die Welt. Er arbeitet dabei unter anderem für Greenpeace, das GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung und das Alfred-Wegener-Institut für Polarforschung, untersucht Steinriffe und Meeresalgen in Nord- und Ostsee, betreut Messgeräte und Tauchroboter, erkundet weitläufige Höhlensysteme und fotografiert unter dem Eis der Arktis.
Mit seinen Live-Shows ist er regelmäßig im deutschsprachigen Raum auf Tournee und begeistert sein Publikum mit faszinierenden Fotos und Filmen aus der Unterwasserwelt. Mit seiner Kamera beobachtet er die bedrohlichen Veränderungen im Ozean und dokumentiert bei seinen Projekten die Überfischung der Meere, den zerstörerischen Einfluss des Klimawandels auf unsere Ökosysteme und die zunehmende Verschmutzung der Gewässer. Für das ZDF steht er als Moderator der bekannten Reihe Terra X vor der Kamera, klettert bis an den Grund eines Gletschers auf Spitzbergen, taucht in wassergefüllten Höhlen auf den Bahamas, fotografiert die singenden Buckelwale im Pazifik und lässt die Zuschauer an einer Sache hautnah teilhaben: seiner Faszination für das Wasser.
(Foto: Bjørnar Sævik)
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