Bei polaren Expeditionsreisen will man den Gästen das Gefühl vermitteln, in einem Gebiet in die Fussstapfen von Polarforschern und -entdeckern treten zu können. Sich wie Amundsen, Shackleton oder Nansen zu fühlen, wenn man eine Stelle zum ersten Mal betritt, ist mit Sicherheit eines der Hochgefühle, die man dabei verspürt. Auf der Reise durch Südgrönland gab es bereits mehrere solcher Orte, die zuvor noch kein Tourist betreten hatte. Doch wie fühlt es sich an, wenn man dabei ist, tatsächlich Geschichte zu schreiben?
Die Reise «Abenteuer Südgrönland» startete mit dem Anspruch, die südliche Region der grössten Insel der Welt auf eine völlig neue Art und Weise zu erkunden und dabei fast «Enterprise»-ähnlich dahin zu gehen, wo noch kein Tourist vorher gewesen war. Dies hatte Quark Expeditions und Expeditionsleitern Allison tatsächlich auch erfüllt, in dem sie mit den Hubschraubern und dem Schiff Orte ansteuern liess, die auf die herkömmliche Weise mit Zodiacs nicht zu erreichen sind. Oder man suchte Landestellen, die noch keiner zuvor angesteuert hatte. Doch was am letzten Expeditionstag geplant war, stellte alles Bisherige in den Schatten. Und starten würde es in einer kleinen Bucht nordwestlich von Narsarsuaq, unserem Start- und Zielpunkt.
Expeditionsleiterin Allison hatte uns schon am Vorabend darüber informiert, dass die Wetterbedingungen derart gut sind, dass sie den Höhepunkt der Reise, nämlich den Versuch einer Landung auf dem Eisschild Grönlands mit den Hubschraubern durchführen will. Ein Plan, den noch keine andere Reederei bisher versucht hat, da erst wenige Schiffe eigene Hubschrauber haben und das Genehmigungsprozedere lange und schwierig ist, wie mir Heli-Operations-Manager Felix erklärt. Und tatsächlich sind die Bedingungen nur 12 Stunden nach der Ankündigung mehr als nur günstig, traumhaft dürfte es besser beschreiben: Sonnenschein und kaum Wolken am Himmel plus kein Nebel ergeben perfekte Sichtverhältnisse für die Piloten und kaum ein Lüftchen bewegt die knapp 6 Grad warmen Luftmassen (die Temperatur wird noch bis auf 10 Grad ansteigen). Darum herrscht schon hektisches Treiben, um die Hubschrauber für Aufklärungsflüge zu starten. Denn einen genauen Landepunkt muss man erst noch finden, der die Anforderungen an das Sicherheitskonzept erfüllt. Doch siehe da, nicht einmal eine Stunde später gehen die Transportflüge los und das Landungsteam mit allem Material wie Notzelte, Stangen, Gewehre, Notfallnahrung und alles, was zu einem Aufenthalt auf einem Gletscher bzw. Eisschild dazugehört, zum Eisschild geflogen. Dann wird alles genau erkundet, mögliche versteckte Spalten und Löcher gesucht, ein Umkreis ausgeflaggt und auf einer Moräne noch ein Weg zu einem Aussichtspunkt markiert. Das Team arbeitet Hand in Hand, man versteht sich auch ohne Worte und die Effizienz ist beeindruckend. Bereits 3 Stunden nach dem ersten Flug ist man bereit, den Gästen eine Weltpremiere anbieten zu können.
Aufgeteilt in Gruppen erhalten alle Gäste die Gelegenheit, sich eine Stunde und etwas mehr auf dem Eisschild aufzuhalten und sich ein klein wenig wie Nansen oder de Quérvain bei ihrer ersten Überquerung zu fühlen. Überall strahlende Gesichter, die Handys und Fotoapparate laufen im Dauerbetrieb. Auch ich, der ebenfalls schon an vielen Orten in der Arktis stand, kann meine Begeisterung kaum im Zaum halten. Staunend und fast schon erhaben feierlich gehe ich über das scharfkantige Eis, blicke in den Schlund der Gletschermühle, in die tosend das Wasser eines Schmelzbaches stürzt. Ich sehe die Spalten in der Umgebung und muss an Koni Steffen denken, der sein Leben dieses Eisschildes und seiner Bedeutung für uns gewidmet hatte. Ich lasse den Blick an den grau-weissen Horizont wandern und gehe darüber hinaus. Es ist nicht mein erstes Mal auf dem Eisschild und doch ist alles anders. Ich spüre die Bedeutung des Ganzen, weiss um die Arbeit, die seit Jahren im Hintergrund lief und in diesem Moment gipfelt. Thomas Lennartz, den Chef der Verkaufsabteilung von Quark und selber ein Polarprofi, sagt es am treffendsten: «Es ist die Erfüllung eines Traums, über das Gewöhnliche hinauszugehen.»
Auch EL Allison, die schon vieles in ihrem Leben in den Polarregionen erlebt hat und zu den erfahrensten Expeditionsleiterinnen und -leitern bei Quark gehört, zeigt sich völlig begeistert, aber gleichzeitig nachdenklich. «Der Eisschild ist eine Verbindung von allem, der Natur und uns. Er ist so zerbrechlich und gleichzeitig ein gigantisches Biest, er kann uns verschwinden lassen und ist doch von uns so stark bedroht. Hier zu stehen, ist ein einzigartiges Gefühl und ich bin unglaublich stolz, dass wir das alle gemeinsam erreicht haben.» Dabei betont sie «alle», denn nur so war dieser Moment und die ganze Reise überhaupt möglich: Eine Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Crews an Bord des Schiffes, dem Expeditionsteam, den Gästen, aber auch mit den Menschen in Grönland, auf deren Land und Eis wir stehen. Denn der Eisschild ist ihre Vergangenheit, ihre Gegenwart und er bestimmt auch die Zukunft von Kalaalit Nunaat, dem Land der Menschen, auch hier im tiefen Süden der Insel, wo einst Erik der Rote nicht karges Land vorfand, sondern ein Land der Vielfalt und der Möglichkeiten. Und daran hat sich bis heute nichts geändert.
Dr. Michael Wenger, PolarJournal