Die Vegetation in der Arktis muss sehr harten Bedingungen trotzen und mit allerlei Anpassungen gegen Kälte, Trockenheit und starke Winde dagegenhalten. Günstigere Bedingungen, wie sie der Klimawandel mit sich bringt, würde die Ausbreitung arktischer Pflanzen vorantreiben. Allerdings wird die durch Brände und die Samenverbreitung begrenzt, wie eine neue Studie eines Forschungsteams der Ohio State University ergab.
Ein Großteil der Tundra ist heute mit Sträuchern bewachsen und auf der Grundlage früherer Studien ging man bisher davon aus, dass diese dichten Büsche im Zuge der Erwärmung etwa 39 Prozent der aktuell nicht mit Sträuchern bewachsenen Fläche in der Arktis erobern würden. Die neue Studie konnte diese Annahme allerdings nicht bestätigen. Die Analysen von Yanlan Liu, Assistenzprofessorin für Geowissenschaften an der Ohio State University und Hauptautorin der Studie, und ihrem Team ergaben, dass sich die Flora bis zum Jahr 2100 nur auf 25 Prozent der Tundra ausbreiten kann.
Anhand von historischen Wachstumsmustern von Sträuchern in Kombination mit verschiedenen Umweltvariablen wie Niederschlag, Höhenlage und Tage mit Temperaturen über 5 Grad Celsius ermittelte das Forschungsteam, was in Zukunft geschehen könnte. Während die Ausbreitung von Sträuchern in den letzten Jahrzehnten mit der Umwelteignung positiv korreliert war — die Wahrscheinlichkeit des Überlebens einer Art an einem bestimmten Ort —, ist dies heute nicht mehr der Fall.
Die Umweltbedingungen sind für die Ausbreitung der Sträucher jetzt also weniger ausschlaggebend und stattdessen sind Faktoren wie die Samenausbreitung und Feuer wichtiger geworden. Bei der Verbreitung von Samen spielen die Schwerkraft, Tiere, Wind oder sogar Meeresströmungen und Eisschollen eine Rolle, die die Samen in Gebiete tragen, wo keine Sträucher wachsen.
«Ausbreitung und Feuer sind viel wichtiger als andere Umweltbedingungen, denn selbst wenn es an einem bestimmten Ort warm genug ist, wachsen dort nicht unbedingt Sträucher», sagt Liu. «Stattdessen hängt es davon ab, ob die Samen an diesem Ort ankommen können oder ob das Saatbett oder die Bodenbeschaffenheit nahrhaft genug ist, um das Wachstum der Sträucher zu unterstützen.»
Durch Brände verbessert sich im Allgemeinen die Verfügbarkeit von Nährstoffen im Boden und die Keimfähigkeit der Samen, auch wenn durch Feuer kurzfristig Samen und Sämlinge absterben können, fügt Liu hinzu.
Über die letzten Jahrzehnte haben die Forschenden eine deutliche Veränderung der Vegetationsverteilung in der Arktis festgestellt, die auf die schnelle Erwärmung der Region zurückzuführen ist. Im Gegensatz zu früheren Studien, die sich meist auf Beobachtungen und Feldmodelle stützten, hat das Team in der aktuellen Arbeit hochauflösende Satellitenbilder des Arctic-Boreal Vulnerability Experiment (ABoVE) der NASA genutzt, um die Ausbreitung von Sträuchern in Alaska und weiten Teilen Westkanadas zwischen 1984 und 2014 zu beobachten.
Anhand dieser Daten war es ihnen möglich, die Ausbreitung der Sträucher für die Jahre 2040, 2070 und 2100 abzuschätzen. Demnach würde die zukünftige Ausbreitung nicht den erwarteten Erwärmungsmustern folgen. Frühere Studien hatten somit das künftige Strauchwachstum überschätzt. Laut Liu könne diese Diskrepanz nur durch die Berücksichtigung von Faktoren wie Samenausbreitung und Feuer erklärt werden.
Die Ausbreitung der Sträucher genau zu beobachten und vorherzusagen sei besonders wichtig, da sie im globalen Energie- und Kohlenstoffhaushalt eine wichtige Rolle spielen. Liu fügt hinzu, ihre Forschung eröffne ganz neue Wege, um zu untersuchen, wie sich die Vegetation an anderen Orten der Erde ausbreitet.
«Diese Studie ist der erste Schritt, um die großflächige Ausbreitung von Sträuchern in arktisch-borealen Regionen mit einer hohen Auflösung zu untersuchen», sagt Liu. «Unsere datengestützte Analyse erklärt, was passiert ist, aber der nächste Schritt ist zu erklären, warum.»
Als nächstes will Liu mit dynamischen Vegetationsmodellen simulieren, wie die Verteilung und Struktur der Vegetation in Zukunft aussehen wird und dann ihre Beobachtungen kombinieren, um die Prognosen genauer zu machen.
Julia Hager, PolarJournal