Selten habe ich die Arktis in den Medien so häufig wahrgenommen wie in diesem extrem heißen Sommer. Ich wünschte, der Grund wäre ein positiver. Stattdessen haben wir das Medieninteresse katastrophalen Ereignissen weit abseits des Hohen Nordens zu verdanken.
Spanien, Italien, Portugal und Griechenland kämpfen gegen Trockenheit, Dürren und Wildbrände. Eine sengende Hitzewelle hat weite Teile Europas heimgesucht. Selbst hier in Deutschland dominieren Waldbrände die Schlagzeilen.
Bauern fürchten aufgrund der anhaltenden Trockenheit schlechte Ernten.
Großbritannien, normalerweise für Wind und Regen bekannt, erlebt Rekordtemperaturen bis 40°C.
In einem kürzlich veröffentlichten Bericht zum Zustand des Klimas 2022 schreibt Zeke Hausfather von Carbon Brief , im Juni 2022 seien die wärmsten je aufgezeichneten Temperaturen über Land gemessen worden. Rekordhitzewellen hätten die nördliche Halbkugel heimgesucht, vor allem Kontinentaleuropa, das Vereinigte Königreich, China und Teile der USA.
Das Jahr als Ganzes wird voraussichtlich “nur” das fünftwärmste seit Beginn der Aufzeichnung sein, so Hausfather. Dies sei dem La Niña-Ereignis zuzuschreiben.
Trotzdem wird die Welt in den letzten acht Jahren die acht wärmsten jemals aufgezeichneten Jahre erlebt haben. Während sich die Wissenschaft oft auf globale Durchschnittstemperaturveränderungen konzentriert, lebt niemand im „globalen Durchschnitt“, erinnert Hausfather. Im Juni 2022 erlebte der Mensch die höchsten Temperaturen seit Anfang der Aufzeichnung in den 1850er Jahren.
Die Arktis im Scheinwerferlicht
„Der aktuelle Trend wird noch bis mindestens 2060 anhalten, und zwar unabhängig vom Erfolg unserer Klimaschutzbemühungen“, sagte Petteri Taalas, Chef der Weltwetterorganisation WMO in Genf, bei einer Pressekonferenz zur Hitzewelle:
„Wir werden uns an diese Art von Wetter gewöhnen müssen. Und die aktuellen Temperaturen werden uns in den kommenden Jahrzehnten mild erscheinen. Als wir in den 80ern den Weltklimarat gründeten, hielten viele das für etwas rein Theoretisches, die meisten Leute glaubten nicht an unsere Szenarien, so dass die aktuelle Hitzewelle ein Weckruf ist für viele Regierungen, sowie die Wählerinnen und Wähler in demokratischen Staaten“, so Petteri weiter.
Auf den ersten Blick erscheint es paradox: Die Suche nach den Ursachen der Hitzewellen, Waldbrände und Dürren lenkt die Aufmerksamkeit auf die normalerweise kalte, entfernte Arktis. Der rasche Temperaturanstieg hängt mit Veränderungen in der atmosphärischen Zirkulation zusammen.
Die Arktis erwärmt sich drei bis vier Mal so schnell wie der globale Durchschnitt. Das verringert den Unterschied zwischen Temperaturen im Norden und Temperaturen in der Nähe des Äquators. Das führt zu Veränderungen des sogenannten Jetstreams – großer Windbänder in fünf bis zehn Kilometern Höhe – die wiederum zu Extremereignissen wie Hitzewellen führen.
Laut einer neuen Studie von PIK hängen diese extremen Hitzeperioden mit „doppelten Jetstreams und ihrer zunehmenden Verweildauer über Eurasien zusammen“. Der Jetstream spaltet sich in zwei Äste auf – so genannte Doppeljet-Lagen – die zunehmend länger anhalten.
„Diese doppelten Jet-Zustände erklären fast den gesamten Aufwärtstrend der Hitzewellen in Westeuropa und etwa 30 Prozent im gesamten europäischen Raum“, so die PIK-ForscherInnen.
Ich kann mich an Zeiten erinnern, wo Redakteure auf mögliche Zusammenhänge zwischen Hitzewellen und der Arktis ungläubig reagiert hätten. Inzwischen ist das anders. Fernsehen, Radio, Zeitungen und die sozialen Medien erklären die Bedeutung der Arktiserwärmung für die Entwicklung von Extremwetterereignissen wie die Hitzewellen, die das Leben und Gewohnheiten so vieler Menschen zurzeit durcheinanderbringen.
Das Meereis der Arktis
Der 15. Juli war Arktis-Meereis-Tag. Er wurde ins Leben gerufen, um das Bewusstsein für den beobachteten Meereisrückgang zu stärken. Der 15. Juli wurde von Polar Bears International deswegen ausgesucht, weil der historische Eisaufbruch in der westlichen Hudson Bay Mitte Juli stattfand. Leider findet dieser Eisaufbruch mittlerweile bereits drei Wochen früher statt.
Klimawissenschafter Zachary Labe von der Princeton University und dem NOAA Geophysical Fluid Dynamics Laboratory (GFDL) beschreibt in einem Blog anlässlich des diesjährigen Arktis-Meereis-Tags den jetzigen Zustand des Eises. Der menschengemachte Klimawandel habe bereits zu großen Veränderungen im natürlichen Zyklus der Arktischen Meereisentwicklung geführt, so Labe. In manchen Regionen sei das Eis seit der Mitte des 20. Jahrhunderts um die 2 Meter oder um 66 Prozent dünner geworden, schreibt der Eisexperte. Die Ausdehnung im September schrumpfe um 13 Prozent pro Jahrzehnt.
Meereis schränkt den Austausch von Wärme, Gasen und Wellenbewegungen zwischen Ozean und Atmosphäre ein. Es trägt außerdem zur Albedo der Erde bei. Das weiße Eis reflektiert mehr Sonnenlicht, so dass die Erde weniger erwärmt wird. Das dunklere eisfreie Wasser dagegen absorbiert mehr Wärme und verstärkt wiederum in einer Art Rückkopplungseffekt die weitere Erwärmung und das Abschmelzen.
Labe und seine Kollegen erwarten in diesem Jahr aufgrund der natürlichen Variabilität keine neuen Rekordwerte. Der langfristige Trend ist aber für ihn ganz klar:
“Wie ich jedes Jahr in diesem Blog schreibe: Ich bin Klimawissenschaftler, aber mich alarmiert immer wieder die Geschwindigkeit und die Anzahl der weitreichenden Auswirkungen des Klimawandels in der Arktis“ schreibt Labe. (Meine Übersetzung aus dem Englischen.)
Das Grönlandeis
Im Juli lösten Rekordtemperaturen in Grönland eine großflächige Eisschmelze aus. In nur 3 Tagen, von 15. bis 17. Juli, verlor die grönländische Eisdecke 18 Milliarden Tonnen Wasser. Mit dieser Menge könne man 7,2 Millionen olympische Schwimmbecken füllen, erklärt das US National Snow and Ice Data Center (NSIDC). Die Eisschmelze habe sich danach weiter beschleunigt, wie Ted Scambos, Glaziologe an der Universität Colorado, gegenüber Gizmodo festhält. Zwischen 8 und 10 Milliarden Tonnen Wasser pro Tag flossen von 20. bis 23. Juli vom Eisschild ab.
Das Eis, das vom riesigen Eisschild Grönland ins Meer abfließt, trägt am meisten zum jährlichen Anstieg des Meeresspiegels bei. Der Ausmaß und die Geschwindigkeit der Eisschmelze werden die Zukunft zahlreicher Küstengroßstädte rund um den Globus beeinflussen.
Das Süßwasser verändert auch den Salzgehalt des Meeres und damit Meeresströmung und –zirkulation. Diese beeinflussen auch maßgeblich das Klima.
Hört überhaupt jemand zu?
Kurz vor der UN-Klimakonferenz COP26 im schottischen Glasgow richteten renommierte Wissenschaftler auf einer Pressekonferenz im dänischen International Press Centre (IPC) einen dringenden Appell an die Delegierten: Nur rasches und umfangreiches Handeln könnten das Abschmelzen der Eisschilde und Gletscher und damit einen drastischen Anstieg des Meeresspiegels sowie Wetterextreme aufhalten.
Die Eischilde reagierten sehr stark auf Veränderungen unseres Klimaverhaltens, sagte Ruth Mottram vom Danish Meterological Institute (DMI). Je weniger wir ausstoßen, desto weniger erwärmt sich die Arktis – und desto weniger schmilzt das Eis. Das Einhalten der Pariser Vereinbarung könnte einen echten Unterschied machen, erklärten die Experten.
Leider brachte die Klimakonferenz in Glasgow trotz der dringenden Appelle der Wissenschaftler und auch dreier ehemaliger LeiterInnen des UN-Klimasekretariats nicht die notwendigen Ergebnisse. Im britischen The Guardian warnten Christiana Figueres, Yvo de Boer und Michael Zammit Cutajar, dass die Regierungen in den letzten 50 Jahren zu wenig für den Klimaschutz getan hätten. Das Zeitfenster, in dem eine lebenswerte, nachhaltige Zukunft für alle gesichert werden könne, drohe verpasst zu werden, wenn die Welt nicht gemeinsam sofort handele, so die Klimachefs. Die Wissenschaft belege, dass der Treibhausgasaustoß bereits in diesem Jahrzehnt reduziert werden müsse. Sollte es bei den bis jetzt umgesetzten Maßnahmen bleiben, steuerten wir auf Temperaturen zu, die 2.7°C oder sogar katastrophale 3.6°C über der des vorindustriellen Zeitalters liegen.
Ihre Appelle scheinen auf taube Ohren gefallen zu sein. Oder hat man sie einfach ignoriert oder vertagt? Aus Zweckmäßigkeit, Resignation oder Verzweiflung?
Laut einer neuen Studie der University of Washington (Nature Climate Change, Juni 2022) hätte der Planet bei einem moderaten Emissionsszenario zumindest zeitweise bis 2029 eine Zweidrittelwahrscheinlichkeit, eine Erwärmung von um mehr als 1.5°C zu überschreiten, selbst wenn zu dem Zeitpunkt keine Treibhausgase mehr ausgestoßen würden, so die Studie. Bis 2057 gäbe es eine Zweidrittelwahrscheinlichkeit, dass die Erwärmung zumindest kurzfristig eine Erwärmung von 2°C überschreiten würde. Für das Meereis der Arktis könnte selbst eine zeitweilige Erwärmungsphase katastrophale Konsequenzen haben, da es zu den Faktoren im Klimasystem gehört, die sehr schnell auf globale Temperaturveränderungen reagieren.
Umweltorganisationen warnen, dass seit COP26 im November nur einige wenige Länder ihre Klimapläne aktualisiert haben. Sie sind verpflichtet, das bis zum 23. September zu tun. Sollte das nicht passieren, könnte es schwierig sein, bei der diesjährigen Klimakonferenz in Ägypten Fortschritte zu erzielen.
Deutschland zwischen Überflutungen und Waldbränden
Hier in Deutschland traf die Hitzewelle mit dem ersten Jahrestag der katastrophalen Überflutungen 2021 zusammen. Das Land stand damals unter Schock, als Starkregen Häuser und Brücken wegspülte, Eisenbahn- und Autobahnstrecken zerstörte. Diese Zerstörung und der Verlust an Menschleben in Deutschland, in einem der reichsten und am höchsten entwickelten Industrieländer der Welt, verschärfte hier das öffentliche Bewusstsein für die Auswirkungen des Klimawandels.
Eine Analyse von Wissenschaftlern des Potsdamer Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) im Dezember 2021 bestätigte, dass die katastrophalen Überflutungen in Europa im letzten Jahr kein einmaliges Naturereignis darstellten. Sie seien vielmehr ein Vorgeschmack der zukünftigen Entwicklung – und menschengemacht.
„Zu trocken, zu heiß, oder zu nass: Mehr lang anhaltende Wetterlagen im europäischen Sommer“, war die Überschrift. Die „zu heiß“-Vorhersage hat sich in diesem Sommer bewahrheitet.
Peter Hoffmann vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), Erstautor der in Scientific Reports veröffentlichten Studie, prognostizierte:
„Das bedeutet, dass die Menschen, vor allem im dicht besiedelten Europa, wahrscheinlich mehr und auch stärkere und gefährlichere Wetterereignisse erleben werden (…) Vor allem im Sommer dauern Hitzewellen jetzt oft länger, (…) Je länger diese Wetterlagen andauern, desto intensiver können die Extreme werden…“
Wie recht er hatte.
Russlands Krieg gegen die Ukraine
Gleichzeitig hat Russlands Krieg gegen die Ukraine zu einer Energiekrise geführt, die sich auf verschiedene Weisen auf die Klimapolitik auswirkt.
Einerseits hat die Notwendigkeit, unabhängig von Gas aus Russland zu werden, die Bemühungen um eine Energiewende beschleunigt. Deutschlands regierende Koalition – zu der auch die Grünen gehören – handelt schnell. Nach Jahrzehnte des Hinauszögerns kann das alles allerdings nicht schnell genug geschehen, um die kurzfristige Energiesicherheit zu garantieren – noch nicht mal für den kommenden Winter. Das hat zur Reaktivierung von Kohlekraftwerken sowie der hastigen Konstruktion von LNG-Terminals geführt, damit das Land Flüssiggas aus dem Ausland importieren kann. Paradoxerweise muss der Grünen-Minister Robert Habeck nicht nur die lang ersehnte Energiewende mit dem Ausbau von Wind- und Solarkraft forcieren, sondern auch einige fossile Energiequellen (hoffentlich nur kurzzeitig) wieder beleben.
Die unabhängige Organisation Climate Action Tracker sieht die Gefahr, dass das CO2-Zeitalter verlängert und das 1,5°C-Ziel endgültig verfehlt wird. Sollten die jetzigen Pläne und Investitionen umgesetzt werden, könnte eine unumkehrbare Erwärmung in Gang gesetzt werden.
Auf der positiven Seite sparen Verbraucher zunehmend Energie. Hier in Deutschland steigt die Nachfrage an Solaranlagen.
Die Gefährdung unseres Lebensstils durch den Ukrainekrieg und die daraus resultierende Energiekrise dienen hier als Motivation. Die Angst vor einem Winter ohne Gasheizung hat das geschafft, was Wissenschaftler und Klimaschützer seit Jahrzehnten versuchen.
Die hohen Kosten führen auch dazu, dass Verbraucher die Heizung herunterdrehen, kürzer duschen oder öffentliche Verkehrsmittel statt das eigene Auto nutzen. Das 9-Euro-Ticket während der Sommermonate hat hier in Deutschland zu deutlich mehr Bahnfahrten geführt. Die Frage ist, wie man Menschen auch längerfristig zur Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel bringen kann.
Aus der Pandemie lernen
Die COVID-19-Krise zwang uns alle dazu, eine Zeit lang unsere Lebensgewohnheiten umzustellen. Der Konsum ging zurück – der Treibhausgsausstoß auch. Bei den Maßnahmen zur Erholung von der Krise wurde aber eine riesige Gelegenheit verpasst. Die Emissionen gingen wieder in die Höhe. Die Energiewende wurde nicht schneller vorangetrieben.
Es besteht die Gefahr, dass wir in unseren Reaktionen auf die Ukrainekrise dieselben Fehler machen. Dies könnte der Moment sein, in dem die Welt die Wende hin zu erneuerbaren Energien beschleunigt. Die Gefahren unserer Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen sind uns schmerzhaft bewusst geworden.
Joe Biden, Präsident der USA, also des zweitgrößten Emittenten der Welt, denkt darüber nach, den “Klimanotstand” auszurufen. Damit hätte er zusätzliche Möglichkeiten, seine Klimaagenda durchzufechten. Die massive Opposition im Congress zeigt, wie schwierig es ist, Politiker rund um die Welt dazu zu bringen, Gesetze zu beschließen und umzusetzen, die eine Klimakatastrophe verhindern könnten, wenn Wirtschaft und Industrie dagegen sind.
In diesen Tagen plädierte ein internationales Forscherteam unter der Leitung von Luke Kemp an der Universität Cambridge für die weitere Erforschung der Auswirkungen eines Temperaturanstiegs von über 3°C. Zwei Milliarden Menschen könnten bis 2070 in Gebieten mit extremer Hitze und Jahrestemperaturen von im Schnitt 29 Grad leben. Die betroffenen Regionen gehörten zu den am dichtesten besiedelten und politisch anfälligsten der Welt. Die Wissenschaftler warnen, dass auch solche „Extremszenarien“ nicht auszuschließen sind, und dass der Klimawandel bei jedem Massenaussterben eine Rolle gespielt habe.
Die sengende Hitze in diesem Sommer hat vielen, die bisher für die Risiken der globalen Erwärmung kein Interesse oder kein Verständnis hatten, auf eine direkte – und oft schmerzhafte – Weise klar gemacht, das auch ihr Leben – und das Leben als Ganzes auf dem Planeten – betroffen, gar bedroht ist.
Im Interview mit BBC News, erklärte der US-Klimabeauftragte John Kerry die Welt lerne, dass grüne Energie die Inflation sowie die Energiekosten senkten, Arbeitsplätze schafften und Gesundheit und Sicherheit verbesserten.
Genau diese sind die Botschaften, die wir kommunizieren müssen, um die Menschheit und den Planeten vor der Klimakatastrophe zu bewahren. Es ist nicht einfach, Menschen dazu zu bringen, unbequeme Entscheidungen zu treffen, von denen erst zukünftige Generationen profitieren werden.
Wir müssen alle verstehen und weiter erzählen, dass das Aufhalten des Klimawandels große Vorteile bringt: für unsere Gesundheit, die Umwelt – und für die Wirtschaft und damit unsere eigenen Geldbeutel. Klimaschutz ist letztendlich in unserem aller Interesse – eine Win-Win-Situation. Und es liegt an uns.
Link zum Blog von Dr. Irene Quaile-Kersken:
Aktueller Blog: https://iceblog.org
Älterer Blog: https://blogs.dw.com/ice/