Das arktische Meereis umfasst eigentlich den grössten Teil des festen Untergrundes in der Arktis. Für viele arktische Bewohner ist es damit wortwörtlich die Basis ihrer Existenz, die aber unter ihnen wegschmilzt. Denn für die Wissenschaft ist das arktische Meereis ein Zeiger dafür, wie stark sich die Erwärmung der Erde auf die polaren Gebiete auswirkt. Jedes Jahr wird dafür die Ausdehnung der Meereisfläche, die sich im Laufe des Jahres ausdehnt und wieder schrumpft, gemessen. Auch in diesem Jahr wurde Mitte September die minimalste Ausdehnung mit Satellitenaufnahmen beobachtet.
Seit Jahren geht die Fläche der minimalsten Ausdehnung des arktischen Meereises zurück. Für dieses Jahr war der Wert der Minimalfläche mit rund 4.79 Millionen Quadratkilometer der zehntniedrigste seit dem Beginn der Aufzeichnungen 1979. Dies, obwohl in weiten Bereichen Europas und in Nordamerika lange Hitzeperioden geherrscht hatten. Die Temperaturen lagen im Schnitt 0.4°C über den Spitzenwerten und erreichten damit neue Spitzenwerte. «Dieser Sommer zeigt einmal mehr, dass die Meereisbedeckung durch langfristige Trends und kurzfristige, starke Jahr-zu-Jahr Schwankungen charakterisiert ist, die durch den Einfluss von Wetter und Meeresströmungen verursacht werden», erklärt Professor Christian Haas vom Alfred-Wegener-Institut.
Obwohl die minimale Ausdehnung in diesem Jahr glücklicherweise keinen neuen Rekordwert aufgestellt hat, folgt sie dem allgemeinen Trend, der seit mittlerweile 16 abwärts zeigt. «In diesem Jahr setzt sich die seit den 1980er Jahren stark zurückgegangene Meereisbedeckung fort», sagt Walt Meier, Meereisforscher am National Snow and Ice Data Center in Boulder, Colorado. «Das sind keine zufälligen Schwankungen oder Zufälle. Es handelt sich um eine grundlegende Veränderung der Eisbedeckung als Reaktion auf die Erwärmung der Temperaturen.» Insgesamt sind seit Beginn der Satellitenmessungen rund 12 Prozent Meereisfläche pro Jahrzehnt verschwunden, haben Forschungsteam berechnet.
Oft führen Kritiker einzelne Regionen an, in denen sich die Meereisfläche nicht weiter zurückgezogen hat, sondern sogar grösser wurde. Auch in diesem Jahr waren einige Regionen verzeichnet worden, in denen sich das Eis weiter nach Süden ausgebreitet hatte, statt sich nach Norden zurückzuziehen. Dazu zählten die Ostküste Grönlands und zentrale und östliche Bereiche in der russischen Arktis. Dieses Eis stammte ursprünglich aus dem zentralen Bereich der Arktis und war verdriftet worden. Experten führen dies auf die Verteilung von Hoch- und Tiefdruckgebieten südlich des Polarkreises zurück, die einen Luftaustausch zwischen der Arktis und den mittleren breiten verhindert hatte. Das hatte u.a. zu den Hitzewellen in Mittel- und Südeuropa und zu kühleren Luftmassen im Norden. Grönland, Island und andere arktische Regionen hatten häufiger kühle Temperaturen und Niederschläge verzeichnet.
Das AWI misst ebenfalls die Eisdicke in jedem Sommer, um mehr über die Qualität des arktischen Meereises zu erfahren. Denn Tiere, die auf dem Packeis leben, benötigen eine minimale Dicke, um auf dem Eis zu leben. In diesem Jahr war die Eisdicke nicht stark verringert, folgt aber auch hier dem Abwärtstrend der vergangenen Jahre. Diese Schwankungen werden ebenfalls von Kritikern gerne ins Feld geführt, wenn es darum geht, die Auswirkungen einer Erwärmung zu leugnen. Doch für die Modellierer sind diese Schwankungen ein Zeichen der Komplexität des Systems «Arktisches Meereis». Denn trotz aller Erkenntnisse, die von der Wissenschaft in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten gewonnen wurden, entdeckt man immer neue Zusammenhänge. «Diese Schwankungen sind weiterhin schwer vorherzusagen und erfordern umfangreichere systematische und kontinuierliche Beobachtungen sowie bessere Klimamodelle», meint Dr. Gunnar Spreen von der Universität Bremen. Und die Satelliten über der Arktis helfen dabei, die Region weiterhin im Auge zu behalten.
Dr. Michael Wenger, PolarJournal