Dass sich die heutigen Landwirbeltiere, darunter auch wir Menschen, aus wasserlebenden Vorfahren entwickelt haben, ist eine Tatsache. Ebenfalls eine Tatsache ist, dass entsprechende Hinweise aus Funden stammen, die in Grönland vor fast 80 Jahren gemacht worden waren. Doch für lange Zeit blieben diese Funde die einzigen und liessen eine grosse Lücke in der Entwicklungsgeschichte des ersten Landwirbeltieres. Das dürfte sich nun geändert haben, nachdem eine Forschungsgruppe über 200 Kilo Fossilienmaterial in Ostgrönland gesammelt hat.
Überreste von wahrscheinlich vier bis fünf verschiedenen und noch bisher meist unbekannten vierbeinige Landwirbeltieren, sogenannten Tetrapoden, hat das sechsköpfige Forschungsteam unter der Leitung von Professor Per Ahlberg, Experte an der Universität Uppsala, entdeckt. Weiter kamen noch zahlreiche Pflanzenüberreste, skorpionähnliche Gliedertiere, Farngewächse und sogar fossiler Kot dazu, die Hinweise auf den Lebensraum, in dem die Tiere gelebt hatten, und dessen Entwicklung geben. Insgesamt mehr als 200 Kilogramm an Fossilien wurden von den Wissenschaftlern bei ihrer Expedition, die von Expeditionsguide Alex Chavanne geführt worden war, gesammelt. «Es ist absolut unglaublich», sagt Professor Ahlberg. «Wir haben mehr und besseres Material entdeckt, als wir jemals zu träumen gewagt hätten. Das wird unser Verständnis über die frühe Entwicklung von Landwirbeltieren revolutionieren.»
«Die entdeckten Fossilien stammen aus dem Ende der Devon-Periode, vor 359 Millionen Jahren», erklärt Per Ahlberg gegenüber PolarJournal. «Dies ist ein wichtiger Zeitpunkt in der Evolutionsgeschichte der Landwirbeltiere (oder Tetrapoden, wie sie auch genannt werden) Funde fossiler Fährten aus Polen und Irland zeigen, dass die zuvor im Wasser lebenden Wirbeltiere im Mitteldevon, vor 393 bis 383 Millionen Jahren, den Übergang zum Land vollzogen haben. Im Spätdevon von Grönland, in Schichten, die nur wenig älter sind als die, die die Expedition in diesem Jahr erforschte, haben Forscher nahezu vollständige Fossilien der Tetrapoden Ichthyostega und Acanthostega gefunden. Diese Tiere vereinen fischähnliche und terrestrische Merkmale und stellen eine Momentaufnahme des evolutionären Übergangs dar.»
Doch wie sich am Ende des Devons und zu Beginn des Karbons die Tiere weiterentwickelt hatten, blieb lange Zeit ein grosses Fragezeichen. Denn Fossilien wurden kaum gefunden. «Das ist etwas bedauerlich, denn genau an der Grenze zwischen Devon und Karbon geschieht etwas wirklich Interessantes: Viele Fischgruppen sterben aus, und die Tetrapoden werden für eine Weile fast „unsichtbar“, mit nur wenigen Fossilien. Als sie wieder sichtbar werden, etwas später im Karbon, sind sie viel weiter entwickelt», erklärt Per Ahlberg. Damals starben in zwei Massenaussterben rund 50 Prozent der marinen Tiergattungen aus. Er hofft nun, dass die Funde Licht ins Dunkle bringen werden und zeigen werden, wie sich die Landwirbeltiere vor dem Aussterben an der Devon-Karbon-Grenze entwickelt hatten.
Den Forschern gelang der Erfolg auf der Insel Ymer in Ostgrönland. Diese zwischen den beiden grossen Fjordsystem Keiser-Franz-Joseph- und Kong-Oscar-Fjorden gelegene Insel mit ihrem Berg Mount Celsius war schon früher der Fundort von Tetrapodenfossilien. In den 1930er bis 1950er Jahren entdeckte man hier mehrere Fossilien von Ichthyostega, einer Tiergattung, die man lange als Bindeglied zwischen Fischen und Landwirbeltieren hielt. Aufgrund neuerer Anaylsen zeigt sich jedoch, dass die Entwicklung von aquatischen zu landlebenden Wirbeltieren komplexer verlief und die bisher bekannte Einteilung der Gattungen überarbeitet werden muss.
Die Funde, die von den Wissenschaftlern unter teilweise sehr eisigen und schwierigen Bedingungen gemacht worden sind, dürften auf jeden Fall dazu beitragen. Die nächsten Jahre sind die Forscher auf jeden Fall beschäftigt, die Fossilien auszuwerten. Und währenddessen warten noch zahlreiche weitere Fossilien auf ihre Entdeckung in den Gesteinsschichten von Mount Celsius. Da sie schon seit hunderten von Millionen Jahren auf ihre Entdeckung warten, dürfte ihnen die Zeit bis zu ihrer möglichen Entdeckung wie ein Wimpernschlag vorkommen.
Dr. Michael Wenger, PolarJournal
Beitragsbild: Schädelfragment, Bild: Grzegorz Niedzwiedzki, mit freundlicher Genehmigung der Universität Uppsala