Es mag überraschen, aber die Arktis ist nicht nur eine eisige Meeresoberfläche, sondern gerade an Land eine vielfältig bewachsene Landoberfläche. Und genau dieses Pflanzenwachstum in den unterschiedlichen Zonen ist wichtig, wenn es darum geht, Energiebilanzen zu erstellen, die wichtige Rückkoppelungen im Klimasystem darstellen. Bisher wurden allerdings die Vegetationstypen und -zonen in der Klimamodellierung eher stiefmütterlich behandelt und stark vereinfacht. Eine Forschungsgruppe unter der Leitung der Universität Zürich hat nun gezeigt, dass die Vegetationstypen eine Schlüsselrolle in der sommerlichen Energiebilanz der Arktis spielen.
Arktische Vegetation, egal ob es sich dabei um Grassteppen, Feuchtgebiete oder Strauchregionen handelt, spielt beim sommerlichen Wärmefluss zwischen der Erdoberfläche und der Atmosphäre eine ebenso wichtige Rolle wie der Breitengrad und die Sommertemperatur. Das ist das Ergebnis der Studie von Dr. Jacqueline Oehri und Professorin Gabriela Schaepman-Strub von der Universität Zürich, die gemeinsam mit einem internationalen Forschungsteam die Arbeit durchgeführt haben. Die Resultate wurden in der renommierten Fachzeitschrift Nature Communications diese Woche veröffentlicht.
In ihrer Studie nutzte das Forschungsteam Daten von Messstationen an insgesamt 64 Standorten in der ganzen Arktis, die über einen Zeitraum von 27 Jahren gesammelt worden waren und somit zum ersten Mal einen Langzeitblick auf die Vorgänge in der ganzen Arktis und der verschiedenen Vegetationstypen erlaubten. «Frühere Studien fokussierten sich entweder auf qualitative Beschreibungen von Bedingungen an verschiedenen Orten oder deckten nur einen beschränkten geografischen Bereich ab», schreiben die Autorinnen und Autoren in ihrer Arbeit. Die Analyse der Daten zeigte, dass die Art der Vegetation bestimmt, ob sich Luft oder der Boden stärker erwärmt, wenn im Sommer die Sonneneinstrahlung wirkt.
Die dunklen Äste der Sträucher ragen früh aus der Schneedecke heraus, nehmen Sonnenstrahlung auf und leiten die Wärme zur Bodenoberfläche hin, lange bevor der Schnee weggeschmolzen ist
Dr. Jacqueline Oehri, Universität Zürich
Das Ausmass war dabei überraschend: «Erstaunt hat uns, dass im Sommer der Unterschied im Wärmefluss zwischen zwei Vegetationstypen – etwa einer von Flechten und Moosen dominierten Landschaft und einer mit Sträuchern – ähnlich hoch ist wie zwischen der Eisoberfläche von Gletschern und der grünen Graslandsteppe», sagt Dr. Oehri, die Erstautorin der Studie. Ausserdem fand das Team heraus, dass der Vegetationstyp, also ob es sich um eine Trockentundra oder eine Buschtundra handelt, die Saisonalität des Energiehaushaltes beeinflusst. «Die dunklen Äste der Sträucher ragen früh aus der Schneedecke heraus, nehmen Sonnenstrahlung auf und leiten die Wärme zur Bodenoberfläche hin, lange bevor der Schnee weggeschmolzen ist», erklärt Dr. Oehri weiter.
Die Resultate der Studie liefern nach Ansicht des Forschungsteams einen wichtigen Beitrag für die Klimamodellierung. «Die Erkenntnisse zu den Energieflüssen in der Arktis sind besonders wichtig, da der Erhalt des Permafrostes insbesondere davon abhängt, wie gross der Wärmefluss in den Boden ist», sagt Professorin Gabriela Schaepman-Strub. «Wir wissen nun, welche Pflanzengemeinschaften über den Energieaustausch einen besonders kühlenden oder wärmenden Effekt haben. Jetzt können wir berechnen, wie sich die Veränderungen der Pflanzengemeinschaften, die in vielen Gebieten der Arktis zu sehen sind, auf den Permafrost und das Klima auswirken.» Denn zu den Veränderungen, die mit der Erwärmung der Arktis einhergehen, zählt auch die Ausbreitung südlicherer Pflanzenvertreter in den hohen Norden. Das wiederum beeinflusst die Erwärmung des Permafrostbodens. Und dieser ist im wahrsten Sinne des Wortes die Grundlage, auf der die arktische Landschaft aufbaut.
Dr. Michael Wenger, PolarJournal