Gletscherabbrüche verursachen wichtige Unterwassertsunamis in Polargebieten | Polarjournal
Gletscherabbrüche und Zusammenbrüche ganzer Eiswände sind häufig in Antarktika und in Polarregionen im Allgemeinen. Die daraus resultierenden Unterwassertsunamis dürften entsprechend wichtigere Rollen haben als bisher angenommen. Bild: Michael Wenger

Gletscherabbrüche sind einerseits spektakuläre Ereignisse in Polarregionen, andererseits aber auch Warnzeichen der dortigen Klimaveränderungen. Besonders aufgrund der tausenden von Gletschern entlang der antarktischen Küste dürften sich dort tagtäglich an vielen Orten dieses gewaltige Naturspektakel abspielen. Um sie aber beobachten zu können, braucht es trotz der Mengen auch eine grosse Portion Glück. Genau das hatte ein britisch-schottisches Expeditionsteam 2020, als sie einen riesigen Abbruch an einer Gletscherwand in Antarktika beobachten konnten. Doch auch wissenschaftlich war dieses Ereignis von grosser Bedeutung.

Zwischen drei und zwanzig Millionen Kubikmeter Eis dürften sich am 21. Januar 2020 von der Eiswand des Williams Glaciers auf Anvers Island gelöst haben und zu einem Tsunami geführt haben, der eine völlige Durchmischung der davorliegenden Wassermassen verursacht hat. Dies resultierte in einer Angleichung der Wassertemperaturen in den verschiedenen Tiefen, was wiederum zu einer temporären Erwärmung der tieferen Wassermassen führte. Aufgrund der Tatsache, dass solche Ereignisse entlang der antarktischen Küste weitverbreitet und häufig sind, dürfte sie eine viel wichtigere Rolle bei der Durchmischung der Wasserschichten, der damit verbundenen Freisetzung von Nährstoffen und auch der Schmelzereignisse an den Gletscherkanten überall in den Polarregionen haben. Das ist das Ergebnis der wissenschaftlichen Untersuchung des Abbruchs, den Professor Michael Meredith von der British Antarctic Survey und ein Team von britischen und schottischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gestern in der Fachzeitschrift Science Advances veröffentlicht hatten.

Das Video zeigt den gewaltigen Abbruch am Williams Glacier auf Anver Island, einer der antarktischen Halbinsel vorgelagerten Insel. Mehr 78’000 Quadratmeter der Gletscherwand brach bei dem Ereignis ab und verursachte einen riesigen Unterwassertsunami, der wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse brachte. Video: BAS

Ein breiter Bereich der Gletscherwand am Williams Glacier auf der antarktischen Insel Anvers Island brach innert Minuten vor den Augen der Besatzung des ehemaligen BAS-Forschungseisbrechers James Clark Ross (dem jetzigen ukrainischen Eisbrecher Noosfera) am 21. Januar 2020 ab. Mehr als 78’000 Quadratmeter der bis zu 40 Meter hohen und 4.5 Kilometer langen Eiswand fielen mit gewaltigem Getöse ins rund 300 Meter tiefe Wasser und verursachten einen Unterwassertsunami, der die Wasserschichtungen davor komplett durcheinanderwirbelte, dass am Ende die Wassertemperaturen bis in 100 Meter Tiefe praktische gleich waren. Das zeigten Messungen, die das Team zufälligerweise vor und nach dem Ereignis durchgeführt hatten. «Das war ein bemerkenswerter Anblick, und wir hatten das Glück, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein», erklärt Professor Meredith, der Leiter der Polarmeer-Abteilung bei der BAS. Aus der Mächtigkeit des entstandenen Tsunamis und der Überlegung, dass solche Ereignisse sich häufig in Polarregionen abspielen müssen, resultierte die nun veröffentlichte Studie. «Viele Gletscher enden im Meer, und ihre Enden brechen regelmäßig als Eisberge ab. Das kann große Wellen an der Oberfläche verursachen, aber wir wissen jetzt, dass es auch Wellen im Inneren des Ozeans erzeugt.»

Um die Häufigkeit solcher Ereignisse und deren Wichtigkeit für die Polarregionen insgesamt zu untersuchen, betrachtete das Team die Abbruchereignisse am Williams Glacier genauer. Es zeigte sich, dass sich dieser in den vergangenen 70 Jahren durchschnittlich um 55 Meter pro Jahr zurückgezogen hat. Satellitendaten zur Häufigkeit solcher grossen Abbruchereignisse zeigten ebenfalls, dass alleine in den letzten sieben Jahre zehn Abbrüche stattgefunden hatten, die gleich oder noch grösser waren als derjenige vom 21. Januar 2020. Weitere 30 Abbrüche waren etwa halb so gross. Das zeigt klar, dass solche Ereignisse häufig und häufiger stattfinden und damit auch Unterwassertsunamis häufiger auftreten. «Viele Gletscher enden im Meer, und ihre Enden brechen regelmässig als Eisberge ab. Das kann grosse Wellen an der Oberfläche verursachen, aber wir wissen jetzt, dass es auch Wellen im Inneren des Ozeans erzeugt», sagt Professor Meredith.  «Wenn die Gletscher brechen, bewirken diese inneren Wellen, dass sich das Meer vermischt, was sich auf das Leben im Meer, auf die Temperatur in den verschiedenen Tiefen und auf die Eismenge auswirkt, die schmelzen kann.» Dadurch, dass sich Gletscher weltweit auf dem Rückzug befinden, dürften solche Ereignisse noch häufiger auftreten und auch die Durchmischungen. Da dies aber noch gar nicht in die Modelle zu den Auswirkungen eingeflossen ist, sind die Konsequenzen noch nicht absehbar.

Dr. Michael Wenger, PolarJournal

Link zur Studie: Meredith et al (2022) Sci Adv 8 (47) : Internal tsunamigenesis and ocean mixing driven by glacier calving in Antarctica; DOI: 10.1126/sciadv.add072

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