Die Geschichte der Antarktis und ihrer Erforschung ist eng mit der Jagd auf Wale verknüpft. Das wird bei einem Besuch auf Südgeorgien besonders klar, denn hier lag einst ein Zentrum des Walfanges und über 175’000 Tiere verschiedenster Arten wurden in der Region erlegt und hier verarbeitet. Dank intensiven Schutzbemühungen sind die Zahlen aber wieder langsam am Steigen. Ein grosses Kunstprojekt will nun diesen Erfolg feiern und gleichzeitig die Besucher der Insel für den Schutz der grossen Meeressäuger inspirieren.
Sech grosse, rostfarbene Tische, auf denen Stahlnieten für jeden heute wieder lebenden Wal und auch für die getöteten Wale rund um Südgeorgien stehen und ein Tisch, der die Anteile der einzelnen um Südgeorgien gefangenen Wale zeigt und das Ganze aufgestellt in Grytviken, dem Zentrum des industriellen Walfangs im atlantischen Sektor der Antarktis, das ist das Installationsprojekt «Commensalis» des schottischen Künstlers Michael Visocchi, des South Georgia Heritage Trusts SGHT und der Verwaltung von Südgeorgien GSGSSI. Damit soll die nicht nur an die Geschichte des Walfanges auf Südgeorgien erinnert werden, sondern vor allem die Erholung der Walbestände in der Region gezeigt werden. Gleichzeitig soll das Projekt bei den Besuchern aber auch für den immer noch notwendigen Schutz der grossen Meeressäuger werben.
Die GSGSSI und der SGHT hatten einen internationalen Wettbewerb ausgerufen, um die Erfolge der Schutzbestimmungen rund um die Insel zu feiern. Denn diese hatten massgeblich dazu beigetragen, dass Südgeorgien wieder zu einem Naturparadies geworden ist, auf dem Robben, Pinguine und zahlreiche Vogelarten ihre Plätze einnehmen konnten. Auch rund um die Insel kamen nach den blutigen Walfangjahrzehnten die grossen Meeressäuger wieder langsam zurück. Rund 150 Künstlerinnen und Künstler folgten dem Aufruf und reichten ihre Projekte ein. Michael Visocchi, der in Schottland lebt und arbeitet, überzeugte die Fachjury mit seinem Projekt «Commensalis», welches er seit 2019 entworfen hatte. Der Name ist nach Angaben des Künstlers abgeleitet vom biologischen Begriff «Kommensalismus», der die Verbindung zweier Organismen beschreibt, bei der beide Seiten voneinander profitieren. «Der Begriff stammt aus dem Lateinischen und bedeutet «vom gleichen Tisch essen»,» erklärt Michael Visocchi. «Damit möchte ich vorschlagen, wie wir mit der Natur und unsere Umwelt interagieren sollten.» Nachdem er ausgewählt wurde, konnte sich Michael Visocchi in einem mehrwöchigen Aufenthalt in Grytviken von der Atmosphäre und der Umgebung inspirieren lassen.
Die von Michael Visocchi entworfenen «Spirit Tables», die ihren Namen in Anlehnung an die Geister der getöteten Wale und die Geschichte des Walfanges, der auf Südgeorgien immer noch spürbar ist, erhalten haben, sollen an der Stelle in Grytviken errichtet werden, an der die Wale angelandet wurden. Dabei werden die Tische, die zwischen 5 und 7.5 Meter Durchmesser aufweisen, schräg gestellt und ragen so nur bis zu 1.3 Meter in die Höhe. «Ich wollte etwas, das niedrig ist, so dass es nicht die Aussicht auf die Umrisse des Ortes unterbricht», erklärt Michael Visocchi in einem Video. «Denn es ist ein Kulturerbe-Gebiet.» Die Tische sind so angeordnet, dass die Besucher einfach auf die spezifisch für jede Art angeordneten Stahlnieten und auf Daten, die an den Rändern der Tische stehen, blicken können. Dabei repräsentiert die Anordnung der Nieten spezifische Bedeutungen der einzelnen Arten. Beispielsweise sind die Nieten bei den Buckelwalen spiralförmig angeordnet und stellen das Blasennetz, mit dem die Tiere ihre Beute jagen, dar. Die Nieten sind auch die Verbindung zwischen der Station und den Walen: «Die Nieten halten den Ort zusammen und ähneln auch den Follikeln der Wale auf deren Haut», sagt Visocchi. Jede Niete kann durch eine Spende gesponsert werden, wobei es drei verschiedenen Beträge gibt, die ebenfalls eine bestimmte Bedeutung haben. Jeder Person wird dabei eine spezifische Stahlniete zugewiesen und so eine ständige Präsenz auf Südgeorgien gesichert, solange die Installation besteht.
Südgeorgien stand während vieler Jahrzehnte nicht als Beispiel für erfolgreichen Naturschutz, sondern als ein Mahnmal für die rücksichtslose Ausbeutung natürlicher Ressourcen. Denn schon ab den 1820er Jahren waren hier Robbenfänger auf der Insel unterwegs, um Pelzrobben zu jagen. Walfänger kamen ebenfalls in die Region, angelockt von den Berichten der Pelzjäger. Mit dem Aufkommen von Sprengharpunen, schnellen Schiffen und nicht zuletzt dem Bau der ersten grossen Walfangstation Grytviken begann die systematische Jagd auf Wale. Doch schon nach wenigen Jahrzehnten kamen die Bestände an den Rand der Ausrottung in der Region. Als Mitte der 1960er Jahre die letzte Station geschlossen wurde, waren 175’250 Wale getötet und verarbeitet worden. Ausserdem waren Rentiere, Ratten und Mäuse auf die Insel gebracht worden, die bei den Vogelarten und den Pflanzen zu massiven Schäden geführt hatten. Doch dank intensivsten Schutzbemühungen von Seiten des SGHT und des GSGSSI konnten diese Schäden langsam behoben, die Schädlinge entfernt und der Natur Südgeorgiens zu ihrer ursprünglichen Vielfalt verholfen werden. Dieser Erfolg, von dem auch die Besucher der Insel profitieren, wird mit dem Projekt «Commensalis» eine würdige Darstellung erhalten.
Dr. Michael Wenger, PolarJournal
Link zur SGHT-Spendenseite für „Commensalis“