Fragt man heutzutage, wann und wo die menschliche Entwicklung stattfand, wird relativ schnell nach Afrika und, je nach Art, auf 7 bis 8 Millionen Jahre verwiesen. Doch diese frühen Vorfahren waren selbst das Ergebnis einer Evolution, die noch viel weiter zurückreicht und vor allem aus Afrika hinausgeht. Denn Forschende haben nun Fossilien dazu beschrieben, die weit in der kanadischen Arktis vor fast 50 Jahren gefunden worden sind.
Die Analyse von fossilen Zähnen zeigen, dass vor 52 Millionen Jahren auf der Insel Ellesmere zwei Tierarten gelebt hatten, die in die Gruppe derjenigen Tiere gehörten, aus denen später die Primaten, und schliesslich auch wir, hervorgegangen sind. Das sind die Ergebnisse einer Studie von Doktorandin Kristen Miller, ihrem Betreuer Professor Chris Beard und Illustratorin Kristen Tietjen von der Universität Kansas, die nun in der Fachzeitschrift «PLOS One» erschienen sind. Da die beiden Arten bisher unbekannt gewesen sind, konnte das Forschungsteam die Namen bestimmen und einigten sich auf Ignacius dawsonae und Ignacius mckennai, zu Ehren der Paläontologen Dr. Mary Dawson und Dr. Malcolm McKenna, die beide ihre Forschungsarbeiten auf Ellesmere Island durchgeführt hatten.
Kristen Miller untersuchte gemeinsam mit ihrem Betreuer Chris Beard fossile Zähen, die bereits in den 1970er Jahren von der Paläontologin Dr Mary Dawson bei Ausgrabungen auf Ellesmere Island entdeckt worden waren. Dazu nutzten die Forschenden Mikro-CT-Scanner und verglichen die Zähen mit bereits bekannten Arten. «Ich konnte eine phylogenetische Analyse durchführen, die mir half zu verstehen, wie die Fossilien von Ellesmere Island mit Arten verwandt sind, die in den mittleren Breiten Nordamerikas vorkommen», erklärt Kristen Miller. Es zeigte sich, dass die gefundenen Zähne zwar in die Richtung der sogenannten Primatomorpha, Vorfahren von Primaten, deuten. «Aber ihre Zähen sind superseltsam im Vergleich zu ihren nächsten Verwandten», sagt Miller weiter. Darum untersuchte die Doktorandin nicht nur die Zähne selbst, sondern auch die Nahrungsmöglichkeiten in der Region unter den damalig herrschenden Bedingungen.
Daten aus der Fundstelle zeigen, dass die Tiere vor rund 52 Millionen Jahren in der Region gelebt hatten, eine Zeit, in der es viel wärmer war als heute, aber Bild liefert, wie die Arktis mit fortschreitender Erwärmung aussehen dürfte. Die Region war viel reichhaltiger, eine boreale, sumpfige Landschaft, die sehr stark von monatelanger Dunkelheit der Polarnacht geprägt war. Das wirkte sich auf die Entwicklung der beiden Arten aus. Die Analyse der Zähne zeigt, dass die Vorfahren der beiden Arten aus dem mittleren Westen der USA eingewandert waren und auf Ellesmere grösser wurden als ihre südlichen Verwandten. «Ihr Vorfahre musste eine Art Pioniergeist besessen haben und kühn dorthin zu gehen, wo noch kein Primat zuvor gewesen war», sagt Kristen Miller. Sie seien aber trotzdem noch ziemlich klein gewesen, wahrscheinlich wie grosse Eichhörnchen, meint Miller. Ausserdem waren sie Baumbewohner, die sich von Früchten, Nüssen und Samen ernährt haben. Besonders letztere mussten einen wichtigen Teil der Nahrung ausgemacht haben, wie die Abnutzung der Zähne zeigte.
Die Ergebnisse bedeuten auch nicht, dass die Arktis die Wiege der Menschheit war. Aber für die Forscher sind sie ein Hinweis darauf, wie Arten auf ein sich änderndes Klima damals reagiert hatten und eine Parallele zu heute darstellt. «Ich denke, dass sich das Verbreitungsgebiet der Primaten mit dem Klimawandel ausweiten oder zumindest in Richtung der Pole statt des Äquators verlagern könnte», meint Kristen Miller. «Wenn es dort zu heiss wird, werden sich vielleicht viele Taxa nach Norden und Süden bewegen, statt der grossen Artenvielfalt, die wir heute am Äquator sehen.»
Dr. Michael Wenger, PolarJournal
Link zur Studie: Miller et al. (2023) PLOS One 18(1) Basal Primatomorpha colonized Ellesmere Island (Arctic Canada) during the hyperthermal conditions of the early Eocene climatic optimum; doi.org/10.1371/journal.pone.0280114