Der Thwaites-Gletscher ist als einer der sich am schnellsten verändernden Gletscher in der Antarktis zu einem Symbol des Klimawandels geworden. Die enorme Geschwindigkeit, mit der er sich zurückzieht, wird offenbar durch unterschiedliche Schmelzprozesse an seiner Unterseite bedingt, wie neueste Beobachtungen erkennen lassen. Ein Blick unter das Eis mit demUnterwasserfahrzeug Icefin hat gezeigt, dass unter einem Großteil des Schelfeises das Eis deutlich langsamer schmilzt als bisher angenommen. In Rissen und Spalten hingegen schmilzt es viel schneller.
Zwei Studien, die am 15. Februar in der Fachzeitschrift Nature veröffentlicht wurden, bringen mehr Klarheit darüber, was sich unter dem Schelfeis des Thwaites-Gletscher abspielt. Bislang sind Forschende davon ausgegangen, dass das Schelfeis wegen des wärmer werdenden Meerwassers von unten großflächig schmilzt. Nachdem ein Team des British Antarctic Survey, der Cornell University und anderer Institutionen mit Hilfe des Roboters Icefin unter das schwimmende Schelfeis schaute, müssen diese Annahmen jedoch korrigiert werden.
Ihre Ergebnisse zeigen, dass das Schmelzen unter dem Schelfeis zwar zugenommen hat, aber deutlich langsamer erfolgt, als viele Computermodelle derzeit schätzen. Das liegt insbesondere daran, dass eine Schicht aus weniger salzhaltigem Wasser zwischen der Unterseite des Schelfeises und dem darunter liegenden Ozean die Geschwindigkeit des Schmelzens entlang flacher Bereiche verringert.
Allerdings stellte das Team überrascht fest, dass sich durch das Schmelzen eine treppenartige Topografie an der Schelfeisunterseite gebildet hatte, wo es, ebenso wie in Spalten im Eis, zu schnellerem Schmelzen kommt.
«Unsere Ergebnisse sind eine Überraschung, aber der Gletscher ist immer noch in Schwierigkeiten. Wenn ein Schelfeis und ein Gletscher im Gleichgewicht sind, entspricht die Eismenge, die vom Kontinent kommt, der Menge an Eis, die durch Schmelzen und Kalben von Eisbergen verloren geht. Wir haben festgestellt, dass trotz geringer Schmelzmengen ein rascher Gletscherrückgang zu verzeichnen ist, so dass es offenbar nicht viel braucht, um den Gletscher aus dem Gleichgewicht zu bringen», sagt Dr. Peter Davis vom British Antarctic Survey, Hauptautor einer der beiden Studien.
Die neuen Daten wurden im Rahmen des MELT-Projekts erhoben, einem von acht Teilprojekten der International Thwaites Glacier Collaboration. Das MELT-Team hat unter dem östlichen Thwaites-Schelfeis den Bereich entlang der Grundlinie beobachtet, wo der Gletscher auf den Ozean trifft.
Die Messungen, die Icefin zwischen dem Bohrloch und der etwa zwei Kilometer entfernten Grundlinie machte, verglich das Team um Dr. Davis mit Messungen von fünf anderen Stellen unter dem Schelfeis. Sie stellten fest, dass über einen Zeitraum von neun Monaten der Ozean in der Nähe der Grundlinie wärmer und salziger wurde. Die Schmelzraten lagen an der Eisbasis im Durchschnitt aber «nur» bei zwei bis fünf Metern pro Jahr, also deutlich niedriger als von aktuellen Computermodellen geschätzt, die von einem jährlichen Eisverlust von 14 bis 32 Metern ausgehen.
Das zweite Team unter der Leitung von Dr. Britney Schmidt, außerordentliche Professorin an der Cornell University und Hauptautorin der zweiten Studie, sammelte mit Icefin weitere Daten unter dem Eis und nahm Bilder vom Eis und dem Meeresboden auf. Sie fanden heraus, dass die Treppen oder Terrassen an der Unterseite des Schelfeises schnell schmelzen, ebenso wie die Spalten. Insbesondere das Schmelzen in den Spalten ist von Bedeutung, da Wasser durch sie hindurch strömt und Wärme und Salz in das Eis übertragen werden können, wodurch sich die Spalten und Risse vergrößern.
Genau diese neu beobachteten schnelleren Schmelzprozesse könnten bedeutend sein für den Eisverlust des Thwaites-Gletschers, zumal sich größere Risse über das Schelfeis ziehen und zum Hauptauslöser für dessen Zusammenbruch werden könnten.
«Diese neuen Möglichkeiten zur Beobachtung des Gletschers ermöglichen es uns zu verstehen, dass es in diesen sehr warmen Teilen der Antarktis nicht nur darauf ankommt, wie viel Schmelze stattfindet, sondern auch wie und wo sie stattfindet. Wir sehen Gletscherspalten und wahrscheinlich auch Terrassen auf sich erwärmenden Gletschern wie dem Thwaites. Warmes Wasser dringt in die Risse ein und trägt dazu bei, den Gletscher an seinen schwächsten Stellen abzutragen», sagt Dr. Schmidt.
Dr. Davis wertet die neuen Erkenntnisse Nature gegenüber als «weder gute noch schlechte Nachrichten» in Bezug auf den Meeresspiegelanstieg. «Der Gletscher bewegt sich immer noch so schnell wie eh und je», so Dr. Davis.
Die Ergebnisse tragen jedoch maßgeblich dazu bei, die Reaktionen des Thwaites-Gletscher auf den Klimawandel besser zu verstehen. Die neuen Daten könnten Lücken in den Computermodellen schließen und somit Unsicherheiten in den Prognosen über den Anstieg des globalen Meeresspiegels ausräumen.
Julia Hager, PolarJournal