Während die Verlaufsgrafiken für die Fläche und Dicke des arktischen Meereises seit Jahrzehnten nach unten zeigen, hat sich das Meereis rund um die Antarktis viel variabler verhalten. Rekordtiefstwerte in der minimalen Ausdehnung wurden gefolgt von wiederkehrenden Rekordhöchstwerten. Doch seit acht Jahren folgt die Kurve auch auf der Südhalbkugel nun einem Abwärtstrend und wird in diesem Jahr nun einen bisher ungekannten Rekordwert erreichen.
Gerade noch 2.11 Millionen Quadratkilometer Eis bedecken die küstennahen Gewässer rund um Antarktika, meldet das deutsche «Meereisportal», ein Expertenforum des Alfred-Wegener-Instituts AWI und der Universität Bremen. Und auch die amerikanischen Experten am National Snow and Ice Data Center in Boulder, Colorado, melden einen Rekordtiefstwert von 1.91 Millionen Quadratkilometer, basierend auch ihren Satellitendaten. Damit wird der bisherige Rekordtiefstwert vom vergangenen Jahr bereits einige Wochen vor dem Ende Februar veröffentlichten Minimalausdehnungswert für das antarktische Meereis unterschritten. Da der Zeitraum für die minimalste Ausdehnung noch bis Anfang März geht, dürfte die Fläche noch kleiner werden. Die Experten sind sich jedoch noch nicht sicher, wie tief dieser Wert noch gehen wird.
Der diesjährige Rekordwert setzt den seit acht Jahren verzeichneten Abwärtstrend fort. «Die rasante Abnahme des Meereises in den letzten sechs Jahren ist sehr erstaunlich, weil sich die Eisbedeckung in den fünfunddreissig Jahren davor kaum verändert hatte», sagt Professor Christian Haas, Meereisphysiker am AWI dazu. Tatsächlich zeigen die Daten der US-amerikanischen Kollegen, dass seit dem Start der Satelliten-gestützten Meereisbeobachtungen erst ziemlich konstant verliefen und ab Anfang der 2000er Jahre dann erst einmal anstiegen. Seit 2016 aber geht es kontinuierlich mit der Minimalausdehnung abwärts. Und davon sind mittlerweile auch alle Sektoren betroffen. Auch die bisher eher stabil scheinende Rossmeerregion in Ostantarktika ist dieses Jahr viel stärker eisfrei und weite Teile der Amundsensee, in die ein grosser Teil des westantarktischen Eisschildes fliesst, ist praktisch komplett eisfrei. Eine Tatsache, die sich an den zahlreichen Touristenschiffen, die in diesem Jahr den Transit von Südamerika nach Neuseeland mit Abstechern ins Rossmeer widerspiegelt.
Mit dem neuen Rekordwert und den stetig sinkenden Minimalausdehnungen stellt sich für Experten eine neue Frage: «Es ist unklar ob dies der Anfang vom schnellen Ende von sommerlichem Meereis in der Antarktis ist, oder ob es sich nur um eine neue Phase mit geringerer aber weiterhin stabiler Meereisbedeckung im Sommer handelt», erklärt Professor Haas. Denn die Daten des NSIDC zeigen, dass der lineare Trend seit 1979 nur gerade um 1 Prozent nach unten gegangen ist, zu wenig, um signifikant zu sein. Doch die Alarmglocken durch den Absturz seit 2016 klingeln laut.
Über die Gründe, warum dieser Abfall der Werte gerade jetzt stattfindet, ist man sich nicht sicher, denn das ganze antarktische System für die Meereisbildung und der notwendigen Faktoren ist höchst komplex. Die Expertenteams machen einerseits veränderte Windmuster, die wärmere Luftmassen an die Küsten der antarktischen Halbinsel transportiert haben, verantwortlich. Ausserdem werden die durch die Klimaveränderung verursachten ganz leicht wärmeren Tiefenwasser am antarktischen Festlandsockel nach oben getrieben, was zu einer rascheren Abschmelzung der dortigen Meereisflächen führt. Dieser Auftrieb wird durch die einen positiven Verlauf der antarktischen Oszillation, auch als SAM (Southern Annular Mode) bekannt, mitverursacht. Dabei handelt es sich um eine Schwankung von Luftdruck im Bereich zwischen dem 40. Südlichen Breitengrad und Antarktika. In diesem Jahr ist dabei der Westwindgürtel rund um Antarktika stärker und zieht sich im Küstenbereich stark zusammen, was zu einem stärkeren Auftrieb der Tiefenströmungen dort führt.
Doch auch die Sonneneinstrahlung soll für die Tatsache, dass Meereis schneller schmilzt, als es sich aufbaut, verantwortlich sein. Wie die einzelnen Faktoren zusammenspielen, ist aber nicht wirklich klar. Das ganze scheint wie ein riesiges Puzzle, deren Teile zwar ersichtlich sind, aber man sie noch nicht richtig zusammengehängt hat.
Die Forschenden sind sich auch einig, dass die veränderten Windmuster rund um die Antarktis eine wichtige Rolle beim gegenwärtigen Verlauf der Meereisausdehnung spielen. Auch dass der SAM durch den herrschenden Klimawandel beeinflusst wird, wird durch existierende Daten gestützt. Doch man kennt noch nicht alle Faktoren und es sind noch viele Fragen offen, die man jetzt mit Hochdruck beantworten möchte. Denn man hinkt mit den Datenaufnahmen den Beobachtungen hinterher. Dies ist einerseits dem Forschungsstopp der vergangenen Jahre aufgrund der COVID-Pandemie geschuldet, wodurch wichtige Felddaten nicht aufgenommen werden konnten. Andererseits fehlt ausgerechnet in diesem Jahr den Australiern ihre wichtigste Plattform, ihr Forschungseisbrecher Nuyina. Dieser sitzt momentan in Singapur wegen technischen Problemen fest und wird mit grosser Sicherheit diese Saison nicht mehr eingesetzt werden können. Damit fällt die wichtige Forschungsfahrt, die erste seit 10 Jahren, die sich eben mit dem Thema auseinandersetzen wollte, auch in diesem Jahr aus und es fehlen weitere wichtige Daten, die etwas mehr Licht ins Dunkel um das antarktische Meereis hätten bringen können.
Dr. Michael Wenger, PolarJournal