Das Meereis rund um die Antarktis bildet einen riesigen, saisonal wachsenden und wieder schrumpfenden Lebensraum für zahlreiche Arten. Wobei Meereis nicht gleich Meereis ist. Genauer gesagt bietet das Meereis viele verschiedene Lebensräume für die verschiedenen Arten: Im Packeis (einjährig und mehrjährig), im Festeis, zwischen Plättcheneis sowie in Kanälen im Eis. Doch der Klimawandel verändert diese verschiedenen Meereislebensräume für Eisalgen, Krill und anderes Zooplankton, Fische und große Tiere wie Pinguine und Robben. Wie werden diese Arten darauf reagieren?
Um diese Frage beantworten zu können, hat ein 27-köpfiges internationales Forschungsteam im Rahmen des ersten Marine Ecosystem Assessment for the Southern Ocean (MEASO, Meeresökosystem-Bewertung für den Südlichen Ozean) untersucht, was die Klima-bedingten Veränderungen für die mit dem Meereis assoziierten Arten in den unteren Stufen des Nahrungsnetzes bedeuten.
Ihre Studie, die in der Fachzeitschrift Frontiers in Ecology and Evolution erschien, gibt zunächst einen Überblick über das vorhandene Wissen zu den Beziehungen zwischen Meereis und den damit assoziierten Eisalgen und den Arten, die von ihm abhängig sind, deren Status und darüber, was die Ursachen für die Veränderungen im Meereis sind.
In den eisbedeckten Regionen des Südlichen Ozeans tragen Algen, die im Meereis leben — vor allem Kieselalgen —, erheblich zur Primärproduktion bei. Davon profitieren Ruderfußkrebse (auch Copepoden genannt), verschiedene Krill-Arten und Salpen, die jedoch nicht nur Nahrung im bzw. unter dem Eis finden, sondern auch Schutz vor Räubern. Zudem fungiert das Meereis für viele von ihnen als Kinderstube. Auch Fische, wie beispielsweise der Antarktische Silberfisch Pleuragramma antarcticum, nutzen das Meereis. Sie legen ihre Eier im Plättcheneis ab, das sich unter dem Festeis in der Terra Nova Bay im Rossmeer bildet. Die Eisplättchen bieten einen idealen Schutz vor Fressfeinden für die Eier und Larven.
Das Forschungsteam nutzte anschließend qualitative Netzwerkmodelle, um die Reaktionen der Meereisflora und -fauna auf Störungen wie steigende Luft- und Meerestemperaturen, die Zunahme von Stürmen und die Verkürzung der jährlichen Meereisperiode zu untersuchen. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass Algen, Copepoden, Krill und Fische auf eine Erwärmung und eine verkürzte Meereisphase negativ reagieren und wahrscheinlich abnehmen werden. Salpenpopulationen hingegen würden von einer kürzeren Meereisdauer und einer erhöhten Anzahl von Tagen mit einer Temperatur von über 0°C profitieren und wahrscheinlich zunehmen.
Die Zunahme von Stürmen scheint wegen der damit einhergehenden geringeren Lichtverfügbarkeit zu einer Abnahme von Eisalgen und Phytoplankton zu führen, auch wenn durch die bessere Durchmischung mehr Nährstoffe verfügbar wären. Krill und Copepoden dagegen hätten durch ein größeres Eisvolumen mehr Lebensraum zur Verfügung, wovon wiederum deren Fressfeinde profitieren könnten.
Bei einer geringeren Eisbedeckung würde es Krill, Copepoden und Fischen, die auf das Vorhandensein von Meereis angewiesen sind, sehr wahrscheinlich schlecht ergehen. Salpen entwickeln sich dagegen besser unter Bedingungen mit weniger Meereis.
Darüberhinaus untersuchte das Team auch die Unterschiede zwischen den verschiedenen MEASO-Sektoren des Südlichen Ozeans: atlantischer, westpazifischer, ostpazifischer und indischer Sektor. Sie fanden heraus, dass der Auftrieb von relativ warmem Zirkumpolaren Tiefenwasser zu einer Abnahme von Plättcheneis im ostpazifischen und indischen Sektor führen kann im Vergleich zum atlantischen Sektor. Somit würde auch die Zahl der Antarktischen Silberfische dort abnehmen. Silberfische sind wichtige Beutetiere für Weddellrobben, Wale, Adéliepinguine, Kaiserpinguine und andere Seevögel. An der westlichen Antarktischen Halbinsel, wo sie einst sehr häufig waren, ist ihre Zahl bereits stark zurückgegangen.
Während die Modellberechnungen der aktuellen Studie wichtige Erkenntnisse zu möglichen Reaktionen der Meereisbiota auf Klima-bedingte Veränderungen lieferten, betonte das Team, dass die bisherige Datenerfassung lückenhaft ist und große Bereiche der Meereiszone im Südlichen Ozean noch nie oder über zu kurze Zeiträume untersucht wurden. Daher fordern sie eine «rigorose wissenschaftliche Datenerhebung bei Arten und Ökosystemen» in allen Sektoren, um die Vorhersagen über die Reaktionen der Meereisarten zu verbessern. Idealerweise sollte dies eine langfristige, disziplinübergreifende Überwachung des gekoppelten interaktiven Systems Meereis-Ozean-Atmosphäre-Biologie-Biogeochemie in Schlüsselregionen beinhalten, so die Autorinnen und Autoren.
Julia Hager, PolarJournal
Beitragsbild: Michael Wenger