Für viele Vogelarten bietet Svalbard im Sommer einen reichgedeckten Tisch und wenige Räuber, um den Nachwuchs grosszuziehen. Doch die Erwärmung macht es den Tieren nicht notwendigerweise einfacher in den Sommermonaten, denn Anpassungen an sich ändernde Umweltbedingungen sind nicht kostenlos. Kurzschnabelgänse, die auf Svalbard brüten, gehören zu diesen bedrohten Arten. Doch diese Vögel haben einen neuen Weg gefunden, um das Problem zu umgehen… und das wortwörtlich.
Kurzschnabelgänse zieht es vermehrt nach Nowaja Semlja statt nach Svalbard und ziehen dafür statt durch Norwegen und Schweden mehr durch Finnland und Russland. Dabei geben sie das Wissen um die neuen Brutgebiete wohl auch auf eine bisher unbekannte Art weiter, denn die Populationszahlen steigen langsam aber stetig jedes Jahr an. Das sind die Ergebnisse einer umfassenden Studie, die Dr. Jesper Madsen, Professor für Wilditierökologie an der Universität Aarhus, gemeinsam mit norwegischen und niederländischen Kolleginnen und Kollegen durchgeführt hat. «Wir beobachten in Echtzeit, wie sich eine neue, eigenständige Vogelpopulation bildet», erklärt der Biologe. «Dies ist sehr selten zu beobachten und die Geschwindigkeit der Entwicklung ist erstaunlich.» Die Arbeit wurde vor kurzem als Bericht in der Fachzeitschrift Current Biology veröffentlicht.
Kurzschnabelgänse sind sehr soziale Tierel und mögen es eigentlich gerne kühl, auch im Winter. Die zu den echten Gänsen gehörenden Vögel verbringen die Wintermonate normalerweise an den Küstengebieten der Niederlanden, Belgien, Grossbritannien und auch schon mal Dänemark. Nach Schätzungen sind es rund 68’000 Tiere, die im Frühjahr den Weg in Richtung Svalbard unternehmen und dabei über das norwegische und schwedische Festland ziehen. Erst am Schluss ziehen sie über die Barentssee, um ab etwa Ende Mai auf Svalbard mit dem Brutgeschäft zu beginnen. Aber immer häufiger kamen Jesper Madsen zu Ohren, dass Gruppen der Vögel in Finnland beobachtet wurden, besonders ab 2010. Also folgte er den Hinweisen und den Routen von besenderten Tieren und markierte ebenfalls Gänse und Ganter unterschiedlichen Alters, um ihre Routen zu verfolgen. Dabei fand er heraus, dass die Tiere nicht nur bis an die Nordmeerküste zogen, sondern noch weiter nach Norden, auf den russischen Archipel von Nowaja Semlja. Das Team vermutet, dass aufgrund der steigenden Durchschnittstemperaturen auf dem Archipel viele Küstengebiete freie Brutplätze und ein steigendes Nahrungsangebot an Pflanzen bieten.
Die Daten, die von Professor Madsen und seinem Team gesammelt worden sind, zeigen auch, dass sich das Wissen über die neue Region unter den Kurzschnabelgänsen wohl jeden Winter «herumspricht». Denn jedes Jahr kommen neue hinzu. «Es war auch cool zu beobachten, dass Gänse von der traditionellen Flugroute auf der neuen Route aufgetaucht sind und scheinbar gewechselt haben», meint Professor Madsen. «Das soziale Lernen und das Folgen von Individuen auf dem neuen Weg war also ein wichtiges Phänomen, das auch erklärt, wie diese Entwicklung so schnell verlaufen konnte.» Er und sein Team sind auch der Meinung, dass die Kurzschnabelgänse auf Nowaja Semlja als eigene, neue Population gezählt werden sollten, da sie die entsprechenden Bedingungen erfüllen würden.
Was aber dem Team noch fehlt, ist eine visuelle Bestätigung ihrer bisher nur am Computer verfolgten Beobachtungen. Doch das dürfte aufgrund der gegenwärtigen geopolitischen Situation und der strategischen Bedeutung, die Nowaja Semlja in den Augen der russischen Politik hat, schwierig bleiben. Weite Teile des Archipels sind militärisches Sperrgebiet, was aber den Vögeln zugutekommen kann. Denn so bleiben sie zumindest vor zu starkem menschlichem Einfluss noch etwas bewahrt und können so ihre Population mindestens kurzfristig noch weiter vergrössern.
Dr. Michael Wenger, PolarJournal
Link zur Studie: Madsen et al (2023) Curr Biol 33 Rapid formation of new migration route and breeding area by Arctic geese; https://doi.org/10.1016/j.cub.2023.01.065